Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Antonia Baum: Siegfried

„Die Angst, bei den Verlierern zu sein“

Feinnervig und genau beschreibt Antonia Baum das Dilemma von Frauen im Neoliberalismus

Irmtraud Gutschke

Barfuß, mit lackierten Zehennägeln sitzt sie im Wartezimmer einer psychiatrischen Ambulanz, wo man anscheinend ohne Termin aufkreuzen kann. Im Gefühl, gleich durchzudrehen, ist sie Hals über Kopf von zu Hause aufgebrochen an diesem heißen Tag in Berlin. Sie hat einen Trenchcoat dabei und ihren Laptop auf dem Schoß. Das Handy hat irgendwann keinen Strom mehr. Die Tochter müsste von der Kita abgeholt werden, aber sie sitzt immer noch auf dem angeschraubten roten Plastikstuhl. Eine freundliche Frau mit weißen Haaren bringt ihr ein Glas Wasser. – Und ich hatte beim Lesen das Gefühl, diese Ältere zu sein, so wie ich die Jüngere voller Mitgefühl betrachte.

Der Roman von Antonia Baum geht unter die Haut, hält einen fest, gerade weil es die Autorin mit feinnervig genauen Beobachtungen bewenden lässt, ohne etwas auszudeuten. „Siegfried“ – der Titel könnte eine Geschichte über männliche Gewalt, gar Missbrauch erwarten lassen. Dagegen steht der  erste Satz: „Siegfried war mein Stiefvater, aber er war immer da, ich bin mit ihm aufgewachsen.“ Gerade hat er einen Herzinfarkt erlitten, und es ist auch die Angst um diesen ihr nahestehenden Menschen, die der Ich-Erzählerin an diesem Morgen die letzte Kraft raubt. Am Abend zuvor hatte es eine schlimme Szene mit Alex gegeben, mit dem sie seit acht Jahren zusammen ist und ein Kind hat. Er ist etwas jünger als sie, Barkeeper und zieht oft nachts noch als Sprayer durch die Straßen. Er kifft und trinkt, aber ist lieb zu ihr und der Tochter. Nur dass er eben kaum Geld nach Hause bringt. Er träumt davon, einen Film zu drehen. Und sie sieht sich als Schriftstellerin. An diesem Abend hat sie ihm gestanden, dass sie mit ihrem Lektor geschlafen hat …

Nur wenige Sätze braucht Antonia Baum, um die Atmosphäre in dessen Wohnung spüren zu lassen, wo in einem „massiven antiken Leuchter“ Kerzen brannten und „Servietten in Ringen mit Perlmuttverzierung“ steckten, wo im Gegensatz zu ihrem Zuhause alles geordnet und friedlich war. Seine Eltern waren reich gewesen – wie die der Ich-Erzählerin allerdings auch. Aber sie hat sich abgenabelt, weil sie ihr Leben anders gestalten wollte. Nun merkt sie, wie anstrengend es ist, schreiben zu wollen und kein Geld zu haben. Von dem geplanten Roman hat sie noch nicht mal ein paar Seiten, doch der Dispokredit ist aufgebraucht. Zudem wohnen sie in einer Gegend, die sie sich eigentlich nicht leisten können. „Die Angst, bei den Verlierern zu sein“ – in dieser Formulierung steckt das ganze menschliche Dilemma im Neoliberalismus, das sich für Frauen noch um ein Vielfaches verstärkt. Es ist ein Dauerdruck, auch für Männer mit ständigen Anstrengungen verbunden, als ob sie auf einer abwärts laufenden Rolltreppe nach oben hasten wollten. Für Frauen indes kommt hinzu, wie schwer das Gebot zur Selbstverwirklichung zu erfüllen ist und wie das Versprechen von Emanzipation in einer immer noch patriarchalischen Gesellschaft permanent unterlaufen wird.

Wie gesagt, diese Gedanken stecken im Roman, ohne dass sie ausgesprochen werden. Wie sie intuitiv darauf hindeutet, darin liegt die große Kunst von Antonia Baum. Insofern ist „Siegfried“ tatsächlich „ein bitterer Deutschlandroman“, wie auf dem Buchumschlag vermerkt. Denn die Irritation der Ich-Erzählerin hat tiefe Wurzeln: im Trauma des Krieges, das in der BRD eher zum Selbstmitleid führte als zur Erkenntnis von Schuld, im Fortleben von Naziideologie unter der weichen Decke des Wirtschaftswunders. „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“ – Großmutter Hilde gebraucht diese Formulierung nicht, versucht aber, ihre kleine Enkelin entsprechend zu erziehen. Sowieso wäre sie ihr als Junge lieber gewesen. Sie wohnt in einer Villa mit Swimmingpool in Bad Homburg. „Alte Nazisau“, so hat der von ihr vergötterte Siegfried sie mal  gegenüber seiner Frau genannt. Doch hatte er von ihr das materielle und kulturelle Startkapital geerbt, um seinerseits reich zu werden und sein Leben auf unablässige Arbeit auszurichten. Für die häusliche Ordnung hatte die Ehefrau zu sorgen. „In der Luft stand etwas Trauriges, für das sich niemand Zeit nahm zwischen dem gesaugten Boden, den geputzten Flächen und den makellosen Möbeln von Thonet, Ligne Roset oder USM Haller, die von Siegfried ausgesucht und von meiner Mutter gepflegt wurden.“

Eine putzsüchtige Hausfrau, die aussehen will wie die Models in den bunten Zeitschriften und die sich irgendwann doch auf Kosten des Kindes befreit, und ein Vater, der sich in unablässiger Arbeit verwirklicht. Die Tochter wollte eine „Entscheidung für sich selbst“ und streckt doch immer noch in alten Mustern. So frappierend detailgenau Antonia Baum erzählt – auch Alex‘ ostdeutsche Eltern kommen ins Spiel –, wird man unwillkürlich eigene Wurzeln und Ziele bedenken. Es soll uns scheinen, als ob wir alle Möglichkeiten der Wahl hätten und uns „nur noch“ anzustrengen brauchten. Was uns aber ständig in Zweifel setzt, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben und unsere Bemühungen ausreichend gewesen sind. Wobei der Roman in einem intellektuell-kreativen Milieu handelt, das näher am Prekären ist, als zugegeben werden kann. Wäre die Ich-Erzählerin nicht Schriftstellerin, sondern Ärztin oder Erzieherin in einem Kindergarten, wäre sie Postzustellerin oder Kassiererin in einem Supermarkt, wäre ihr Alltag anders und ihre Gedankenwelt auch. Viel drückender noch wäre die Doppelbelastung Beruf und Familie, aber der Anspruch auf kreative Selbstverwirklichung wäre nicht so hoch. Wie soll jemand schreiben, umgeben von Geldsorgen und häuslicher Unordnung, ohne innere Ruhe, weil ständig mit schlechtem Gewissen dem Lebenspartner und dem Kind gegenüber?  

Aber Johnny – ihr Name ist absichtsvoll  geschlechtsneutral – wird später als junge Frau auch mal an die Erfahrungen mit ihrer Mutter denken, die nun vor allem fürchtet, Siegfried zu verlieren und Alex auch. Doch erst einmal fällt der Kinderstuhl um – schon Milchflecken und Krümel auf dem Boden können die Eltern zur Verzweiflung treiben. Und was erst, wenn das Kind mit dem Schöpflöffel auf die Fliesen schlägt … Ein Wecksignal für diejenigen, die vor allem mit sich selbst zu tun haben? An dem Abend, als sie stritten, haben sie die Kleine vor dem Fernseher einschlafen lassen.

„Denken Sie an Ihr Kind“, hätte die freundliche Frau in der Arztpraxis womöglich zur Patientin gesagt, wenn sie ins Gespräch gekommen wären. Und nicht gemerkt, was für eine Taktlosigkeit das war. Jahrhundertelang wurde von Frauen gefordert, eigene Lebensansprüche zurückzustellen, besser noch, sie gar nicht erst zu haben. Die Einsicht in die Zartheit von Kinderseelen ist eine Errungenschaft von heute, die indes den Druck auf die Frauen noch erhöht.

Antonia Baum: Siegfried. Roman. Claassen Verlag, 254 S., geb., 24 €. 

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