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Im vermeintlich Rückständigen eine Utopie
Ein erstaunliches Buch: „Weiße Rentierflechte“ von Anna Nerkagi ist die erste deutschsprachige Veröffentlichung einer Autorin der Nenzen, eines der kleinen Völker im hohen Norden Russlands, das vornehmlich von der Jagd, dem Fischfang und der Rentierzucht lebt. Eine dramatische Liebesgeschichte wird erzählt, verbunden mit einem Plädoyer für die Werte einer alten Nomadenkultur.
Von Irmtraud Gutschke
Die Entdeckung dieses Romans ist dem Übersetzer Rolf Junghanns zu verdanken, die Edition in hervorragender Qualität dem Leipziger Verlag Faber & Faber. Dem Text vorangestellt sind Aufnahmen des berühmten brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado, der viele abgelegene Orte der Welt bereiste, wo noch ursprüngliche indigene Völker leben. Rentiere im Schnee, Schlitten, Männer in unförmig scheinenden Pelzkutten, Frauen, die einen Tschum aufbauen – die dünnen Holzstangen stehen schon, im Winter müssen zwei Lagen Rentierfelle darüber. Winter scheint es auf diesen Fotos zu sein. Der Boden des Tschum ist mit Brettern ausgelegt. Das Zentrum bildet ein offenes Feuer. Der Rauch zieht durch ein Loch in der Zeltspitze ab. In den Randzonen befinden sich die Schlafbereiche, durch Stoffvorhänge voneinander getrennt.
Man kann sich vorstellen, wie eng es im Tschum von Wanu wird, nachdem er seinen Freund Petko bei sich aufgenommen hat. Dass seine Frau ihm deshalb später Vorhaltungen macht, man kann es verstehen, aber dass sie Petkos Sachen wutergrimmt in den Schnee wirft, damit verletzt sie die Normen der Gastfreundschaft. „Das Feuer ist dein, aber die Ehre ist mein“, sagt ihr Mann und hebt einen Riemen aus Walrossleder. „Beschmutze nicht die Ehre unseres Zeltes, Menschen kommen zu uns zu Gast.“ Zwei Schläge, einen dritten wird es nicht geben. „Ich bin die Mutter deiner Kinder“, sagt die Frau.
Petkos Tschum ist verwaist, nachdem seine Frau gestorben ist. Er kann dort nicht mehr leben. So lädt er die Felle und das Gestänge auf einen Schlitten und bringt seine gesamte Habe zu den „Drei Bäumen“, wo die Nenzen schon seit alten Zeiten nicht Benötigtes zurückließen. Bei Wanu lebt er nun „auf der anderen Seit des Feuers“, das heißt nicht im eigenen Tschum. Und noch etwas drückt Petko nieder: Seine beiden Töchter wohnen irgendwo in der Stadt und lassen nichts von sich hören. Die jüngere, Ilne, hätte eigentlich Aljoschkas Frau werden sollen. Nun aber wird Aljoschka mit einer anderen verheiratet – absolut gegen seinen Willen, denn er liebt Ilne, obwohl er sie schon sieben Jahre nicht mehr gesehen hat.
Ein Mann wird verheiratet, weil es für ihn, Mitte zwanzig, höchste Zeit ist, Kinder zu haben und weil die Mutter, schon alt, mit der Hausarbeit allein nicht mehr zurecht kommt. Aber der Sohn, mit seiner Liebe im Herzen, rührt die Angetraute nicht an, die mit ihm in einem Bette schläft. Da tut sie einem viel mehr leid als er, und auch die Mutter stellt sich an ihre Seite. „Du willst, dass ich auf allen Vieren umherkrieche und dir alles nachräume. Es reicht. Ich will mich in eine stille Ecke für das Alter zurückziehen und von dort aus deine Kinder wachsen sehen“, schreit sie ihren Sohn an. „Für das Leben braucht man keine Liebe. Wichtig ist nur, dass man kein Hund ist… Mann und Frau kommen nicht zum Spielen zusammen…“
In diesem Streit kollidieren Epochen. Die Liebesheirat als Normalzustand? Bis ins 19. Jahrhundert hinein stand der üblicherweise arrangierten Vernunftehe das romantische Ideal einer alles beherrschenden Liebe entgegen, das nun Allgemeingut geworden ist. Nicht nur, dass Vorstellungen aus unserer stark individualisierten Gesellschaftsform in vielen Ländern der Welt so nicht gelten, man braucht nur wenige Jahrhunderte zurückzudenken, da waren sie auch hier die Ausnahme.
Ein Vergleich mit Aitmatow
„Eine tragische Liebesgeschichte, die uns tief berührt wie einst die Schicksale der Figuren bei Aitmatow.“ Neben der Empfehlung des Übersetzers war es diese Bemerkung im Klappentext, die mich zur Lektüre veranlasste, obwohl riesige Stapel neuer Bücher auf mich warten. Denn das Werk des kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow beschäftigt mich schon seit meiner Studentenzeit. Ich habe darüber promoviert, zwei Bücher geschrieben, einen Band „Tiergeschichten“ herausgegeben, einen Film übersetzt. Ich bin Mitglied der Akademie „Manas und Aitmatow“ in Bischkek und freue mich, in Veranstaltungen vor deutschen Lesern über den Schriftsteller zu erzählen, den ich auch persönlich gut kannte.
Einen Vergleich mit Aitmatow legt die poetische Sprache von Anna Nerkagi tatsächlich nahe. Rolf Junghanns hat sie so ins Deutsche gebracht, dass Fremdes zum Eigenen wird. Die Autorin, ich bin sicher, hat Aitmatow gelesen, der ja in enger Beziehung zu den nomadischen Traditionen im Nordwesten Kirgistans aufgewachsen ist. Gleichzeitig aber beschrieb er den Aufbruch in die Moderne. Diesem Aufbruch verdankt die Erzählung „Djamila“ ihren Zauber. Von dem französischen Schriftsteller Louis Aragon 1958 als „schönste Liebesgeschichte der Welt“ bezeichnet, wurde sie in zahlreiche Sprachen übersetzt und war für Schüler in der DDR sogar Pflichtlektüre. In gewisser Weise erscheint Nerkagis Roman als Gegenentwurf.
Djamila folgt ihrer Liebe zu einem jungen Kasachen, obwohl sie verheiratet ist. Sie verlässt einen Frontsoldaten während des Krieges, verletzt damit nicht nur kirgisische, sondern auch sowjetische Norm. In Wirklichkeit ist es sogar noch schwieriger gewesen. Die junge Frau – Aitmatow veränderte ihren Namen – ließ zwei kleine Mädchen zurück. Inzwischen alte Frauen, sprechen sie in dem von mir übersetzten Film „Djamilas Töchter“ von Baktybek Schamkejew über ihren Schmerz. Wie die Schwiegermutter unter Djamilas Flucht litt, hat Aitmatow in seiner Erzählung ja angedeutet.
Wie ungestüm er selbst sich von dem angestammten Umfeld gelöst hatte, nachdem er ans Literaturinstitut „Maxim Gorki“ in Moskau zum Studium gegangen war, Russisch und immer wieder in der sowjetischen Hauptstadt lebte, hat Aitmatow nie bereut, aber zunehmend begriffen, welche Verluste damit verbunden waren. 1951 geboren, hat Anna Nerkagi schon als Sechsjährige Abstand zu ihrer Heimat gewonnen. Wie auch Aljoschka im Roman lebte sie die meiste Zeit im Jahr, getrennt von ihren Eltern, in einer Internatsschule. Und sie verleugnet in keiner Weise die Kulturtat der Sowjetunion, den Kindern auch ferner Völker auf diese Weise Bildung angedeihen zu lassen. Zwar schufen russisch-orthodoxe Missionare um 1895 die erste Schrift, veröffentlichten eine Grammatik und eine Fibel, aber erst ab 1932 begann sich eine Schriftsprache zu etablieren. Auf Nenzisch geschrieben, hätte Nerkagis Roman keine Chance gehabt, über ihre engere Heimat hinaus bekannt zu werden. Wie Aitmatow verdankt sie der Kenntnis der russischen Literatursprache viel.
Bis 1972 hat sie Erkundungsgeologie am Industrieinstitut Tjumen studiert und begann zu schreiben. Wie man auf russischen Webseiten lesen kann, brach sie ihr Studium nach zwei Jahren ab, um nach dem Tod ihrer Mutter den Vater zu unterstützen. Ab 1980 kehrte sie ganz zur nomadischen Lebensweise zurück und gründete 1990 eine Tundra-Schule für Nenzen-Kinder, basierend auf dem Konzept der Ethnopädagogik. In Verbindung mit dem Russischen sollen die traditionellen Werte der Nenzen nicht verloren gehen.
Fremde Welt mit eigenem Zauber
Die sowjetische Vergangenheit wird im Roman in keiner Weise diffamiert, im Gegenteil. An die lokalen Machtorgane, die „Sowjets“, konnten sich die Nenzen jederzeit um Hilfe wenden. Aber nach den Wirren der 1990er Jahre, dem schleichenden Übergang zu einer westlichen Lebensweise scheint es der Autorin umso wichtiger, die traditionellen Werte der Nomadengemeinschaft ins Bewusstsein zu heben. Auf packende Weise führt der Roman in eine fremde Welt. Dem hat der Übersetzer auf 13 engbedruckten Seiten noch ein „Kleines ABC des nenzischen Lebens“ beigefügt. Genau erklärt sind der Alltag und Glaubensvorstellungen. Wie in Kirgistan der Islam paart sich bei den Nenzen die orthodoxe Religion mit viel älteren Vorstellungen, die auf der Beseeltheit nicht nur der natürlichen Umwelt, der Berge, Flüsse, der Tiere, sondern sogar vieler Gegenstände beruhen. Auch die Schlitten habe eine Seele. So befindet sich der Mensch in vielerlei Verantwortlichkeiten. Besonders stark ist dies in Bezug auf die menschliche Gemeinschaft. Noch nicht getrennt von der „Nabelschnur“ des naturwüchsigen Gemeinwesens (Friedrich Engels) muss den Nenzen westlicher Individualismus ebenso fremd scheinen wie Konkurrenz. „Keiner soll jemanden verdrängen, jemanden abwehren müssen, nicht einer allein soll der Starke sein. Stärke braucht nur das Raubtier, das im Nachtdunkel einem Schwachen Leid zufügen will. Der Mensch ist kein Wolf…“ Viele solcher Zitate gibt es im Buch.
Dass „alle auf ein und derselben Erde leben und auch der Himmel über den Köpfen allen gehört“ lässt an Aitmatows Begriff eines „planetarischen Bewusstseins“ denken, das, aus nomadischer Tradition kommend, heute als eine Notwendigkeit für die Zukunft erscheint. Wie da im vermeintlich Rückständigen eine Utopie aufscheint, gibt dem Roman von Anna Nerkagi einen untergründigen Reiz.
Und wie geht es nun Aljoschka mit seiner Liebe im Herzen? Muss seine Angetraute in ewiger Einsamkeit und Trauer leben? Wird sie zu ihren Eltern zurückgeschickt? Kommt Ilne doch irgendwann wieder? Der Schluss des Roman soll hier nicht verraten sein.
Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Roman. Aus dem Russischen von Rolf Junghanns. Mit Fotos von Sebastião Salgado. Verlag Faber & Faber, 192 S., geb., 22 €.