Anna Katharina Hahn: Wilde Phantastik und triste Realität
Die Eltern auf dem Vertiko
Von Irmtraud Gutschke
Ana Maria Martinez Madrugada, genannt Anita, zieht das Kleid ihrer Mutter Blanca an und wird sofort mit ihr verwechselt – von der Nachbarin, von der Freundin – nun, von Blancas mysteriösem Liebhaber nicht, aber dazu später. Zunächst einmal haben sich Anas Eltern an einem Samstag im Hochsommer in ihr Ehebett gelegt und sich die Laken über die Köpfe gedeckt. Sie sind also nicht wie sonst in ihr Ferienhaus gefahren, und Anita war sogar froh, bei ihrer Clique in Madrid bleiben zu können. „Sie sind meine besten Freunde, mein Heimathafen.“ Sie benehmen sich wie Pubertierende, aber so jung sind sie schon nicht mehr. Eher sind sie zur Jugendlichkeit verdammt. Trotz Ausbildung und Studium hat niemand von ihnen selbstständig werden können. „Keiner von uns bekommt die Arbeit, für die er ausgebildet wurde oder hat überhaupt einen Job, geschweige denn eine eigene Wohnung. Wir leben bei unseren Eltern, in unseren alten Kinderzimmern.“ Anita ist Unterstufenlehrerin, ihr Bruder Angel hat über Gertrud Kolmar promoviert und wollte in Berlin – unentgeldlich – Vorlesungen halten und hat als Bauarbeiter wenigstens etwas Geld erhalten, um die Eltern zu unterstützen. Die „kleine Maria“ hat Psychologie, die „große“ Volkswirtschaft studiert. Laura hat einen Doktor in spanischer Literatur. Juan Carlos, Grafikdesigner, hat sich mal als Saalwächter im Prado beworben, als einer von 18 000, und hat den 900-Euro-Job nicht bekommen…
Eine Gesellschaft im sozialen Absturz – darum geht es in dem neuen Roman von Anna Katharina Hahn. Sie lässt ihn in Spanien spielen, aber wir wissen: Ähnliches geschieht in anderen westlichen Ländern auch. Es ist das, was uns ebenfalls droht, wovor wir uns insgeheim fürchten.
Wie dünn der Boden eines deutschen wohlgeordneten Alltags ist, wie es darunter brodelt, wie schon Löcher aufbrechen, das hat die 1970 geborene, in Stuttgart lebende Autorin schon in ihren früheren Werken beschäftigt. Ihren 2009 und 2012 bei Suhrkamp erschienenen Romanen „Kürzere Tage“ und „Am Schwarzen Berg“ handelten im deutschen Mittelstandsmilieu, in dem Schein und Sein schon so weit auseinanderklaffen, dass es zu Katastrophen kommen muss. Hier nun wagt sie eine stärkere Verfremdung: indem sie ihre Geschichte in Spanien ansiedelt und vor allem indem sie phantastische Elemente einbaut. Allein schon, wie Anitas Eltern erst milde lächelnd in ihren Sesseln sitzen, dann als Puppen auf dem Vertiko landen – das ist ein so erstaunlicher Einfall, den womöglich noch niemand in der Literatur vorher hatte, dass man Anna Katharina Hahn nur beglückwünschen kann. Ihr Problem war, und das wird sie wissen, dem Geheimnisvollen seinen Platz zuzuweisen, denn es gerät leicht ins Wuchern.
Andererseits ist es natürlich das Überraschende,Rätselhafte, das einen bei der Lektüre dieses Romans auf unterhaltsam spannende Weise trägt. Denn dass es eine grassierende Jugendarbeitslosigkeit gibt, das wissen wir ja. Von sozialen Krisen erfahren wir täglich aus den Medien; da ist der Literatur auch Stoff für Enthüllungen abhanden gekommen. Es sind so viele Informationen verfügbar, dass sie vom einzelnen schwer in Zusammenhänge zu bringen sind und, statt zu ermächtigen, Ohnmachtsgefühle erzeugen. Wovon man in den Zeitungen liest, womit einen die Fernsehbilder ängstigen, man kann es ja doch nicht ändern. Demonstrieren und auf jeden Fall wählen gehen, im kleinen helfen, wo es möglich ist, das ja – doch die große Politik, da hat man doch inzwischen keine Illusionen, wird anderswo und oft im Verborgenen gemacht.
Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter. Suhrkamp, 311 S., geb., 21,95 €.