„Ich bin ein Baum“
Anaïs Barbeau-Lavalette schöpft Kraft aus der kanadischen Wildnis
Irmtraud Gutschke
„Draußen singen die Frösche, dann erobern die Glühwürmchen den Himmel. Und mittendrin der gurgelnde Bach, Pulsader der Nacht. An der Leiste meines Kindes sitzt eine Zecke …“ Schreibend übt sich Anaïs Barbeau-Lavalette im Schwingen: vom alltäglich Banalen zum poetisch Erstaunlichen und zurück. Die eingerollten Triebe des Farnkrauts, Wiesenschaumzikaden, die fast unsichtbare Rohrdommel. „Diese Verbindung mit der Natur … Die wird uns retten.“
Bestärkung, die sie nötig hat, wenn sie nicht klagen will. „Wir sind zwei Familien und leben im Wald. Vier Erwachsene und fünf Kinder zwischen drei und neun Jahren.“ Im „blauen Haus“, wo es keinen Handyempfang und kein Fernsehen gibt, wo von der Vorbesitzerin, der alten Mary, noch die Fliegenfänger von der Decke hängen und die Tapeten abblättern, haust die Ich-Erzählerin mit ihrer fünfköpfigen Familie in einem Zimmer. Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Ihr Mann wird fast erdrückt durch die Enge.
Kein Ferienhaus, sondern ein Zufluchtsort. Aus der Stadt sind sie weggegangen, „als sie den Park mit dem gelben Flatterband absperrten, das sonst Tatorte sichert“. Durch den Klappentext erspart uns der Verlag das Raten. Das Buch entstand während der Corona-Zeit. Die Kinder werden zu Hause unterrichtet, abwechselnd von den Erwachsenen, die ihnen ansonsten viel mehr Freiraum lassen, als sie selbst ihn je hatten. Und die es genießen, ihnen zuzusehen, wie sie ihre Phantasien ausleben, wie sie toben, wie frei sie sind und unbekümmert, wie sie einem alten Baum einen Namen geben und ein Begräbnis für eine kleine Maus zelebrieren.
Auch wir sehen ihnen beim Lesen zu. „Fünf kleine Seiltänzer“, die wir selbst nicht waren. Die Uhr hat keine Macht über sie, und die Eltern binden sie nur durch hingebungsvolle Liebe. Wie es war oder wie es sein müsste. „Erzähl die Dinge nicht so, wie sie passiert sind, mach Legenden daraus“ – dieses Zitat von Romain Gary (1914-1980) stellt die Autorin ihrem Buch voran, zusammen mit einem Ausspruch ihrer Mutter: „Für das Schöne musst du schon selbst sorgen.“
Wie recht sie hat. Man sollte es sich hinter die Ohren schreiben – und auf jeden Fall viel öfter in die Natur gehen. Was sind das bloß für Fesseln, die uns binden? Was ist das für eine Hast, die uns dazu bringt, das eigentlich Wichtige in den Hintergrund zu schieben? „Ich bestimme, wie großartig das Alltägliche ist.“ Lesend bewundern wir eine Lebensleistung.
Ein Roman, zusammengefügt aus kleinen Texten, die auch anders gruppiert sein könnten: Beobachtungen, Erinnerungen, literarische Reminiszenzen, lyrische Miniaturen hat die Autorin aneinandergereiht und sich davon wohl auch selbst beflügeln lassen. Bald wünschte ich mir, ein Foto von ihr zu sehen, eine Kurzbiographie zu lesen. Beides findet sich, fast versteckt, auf der letzten Seite. Anaïs Barbeau-Lavalette, 1979 in Montréal geboren, ist Filmregisseurin, Drehbuchautorin. Mehrfach preisgekrönt wurde ihr Roman „So nah den glücklichen Stunden“ (2020). Darin erzählt sie die Geschichte ihrer Großmutter Suzanne, die um ihrer künstlerischen Ambitionen willen ihren Mann und ihre zwei Kinder verließ.
Ein Lebenskonzept, dem die Enkelin verstehend widersteht. In der Tiefe ihres Romans „Sie und der Wald“ lebt der Wunsch, etwas zu integrieren – liebevolle Hingabe an die Kinder und den Ehemann mit dem Wunsch nach Ungebundenheit. Diese Sehnsucht auch erotisch auszuleben – ist es Traum oder Realität? – treibt die Ich-Erzählerin zu einem japanischen Maler, der sich in der Wildnis eingerichtet hat, und zu einem rätselhaften Waldmenschen. Manchmal schwebt eine weiße Frau vorüber. Ihr Grabstein wird beim Haus entdeckt …
Sie schaffen sich Hühner an. Die werden eines Nachts gerissen. Überhaupt nistet der Tod zwischen den Zeilen. Mit „der grandiosen Brutalität des Lebens“ sind auch die Kinder konfrontiert „und erfahren fassungslos seine herrliche Widerspenstigkeit“. Dahinsiechen, Unfälle, Unterstützung einer Selbsttötung – Erbarmen und Gedenken. „Mama, wenn du mal stirbst, begrabe ich dich unter meinem Bett“, sagt die Tochter.
Das erinnert sie an ihre Mutter, die ihr ein Geheimnis verriet. „Ich schließe die Augen und rufe es mir in Erinnerung. Ich bin ein Baum. Ich bin ein Baum und habe lange starke Wurzeln. Sie stecken unendlich tief in der Erde. Ich kann unmöglich umfallen. Ich bin eintausend Jahre alt.“
Wundersame Lektüre, die bestärkt.
Anaïs Barbeau-Lavalette: Sie und der Wald. Roman. Aus dem Französischen von Anabelle Assaf. Diogenes Tapir, 240 S., geb., 24 €.