Amos Oz erzählt von Jesus und Judas und ist selbst ein Ketzer, was den Staat Israel betrifft
Der gütige Träumer und sein gläubiger Jünger
Von Irmtraud Gutschke
Das Muster – eine junge Frau in finanziellen Nöten kommt, vielleicht als Kindermädchen, in ein Herrenhaus, dessen Geheimnisse sie fesseln -, dieses Muster ist hier auf einen jungen Mann übertragen. Inzwischen mittellos und von seinen Freunden verlassen, wird er von einem handgeschriebenen Zettel in das Haus eines Alten gelockt. Gegen Kost, Logis und ein kleines Salär soll er ihm in den Abendstunden Gesellschaft leisten. Und da gibt es auch noch eine faszinierende Frau. Sie könnte fast seine Mutter sein, er sehnt sich, ganz kurz wird sie zu seiner Geliebten…
Das probate Muster – eine formidable Hülle. Hinter der sich was verbirgt? Die Handlung beginnt im Winter 1959/60. In der Mansarde von Schmuel Asch blicken Fidel Castro und Che Guevara auf ihn herab. Und auf seinem Tisch religiöse Bücher. Das könnte auch bei dem damals zwanzigjährigen Autor so gewesen sein. Schon mit fünfzehn, sagte Amos Oz kürzlich in einem Interview, habe er sich in das Neue Testament vertieft und sich über mancherlei Unstimmigkeiten in der Geschichte von Judas und Jesus den Kopf zerbrochen. Schmuel Asch hatte seine Abschlussarbeit an der Universität dem Thema „Jesus aus jüdischer Perspektive“ widmen wollen (nicht „Judas in der Perspektive der Juden“, wie es im Klappentext heißt). Aber Judas interessiert ihn ebenso. Und er entwickelt zu diesem Mann eine Theorie, mit der er heute an der Seite auch mancher christlicher Theologen stünde. Wäre es nicht plausibel, dass dieser Judas, der bis jetzt als Sinnbild des Verräters gilt, in Wirklichkeit der am stärksten gläubige Jünger von Jesus war? Jesus, den schon der zionistische Gelehrte Joseph Klausner, der Großonkel von Amos Oz, wie im Buch kurz zitiert, als Jude bezeichnete, dem nie in den Sinn gekommen war, eine neue Religion zu gründen. Judas, meint nun der junge Schmuel, habe so sehr auf Jesus als Messias gehofft, dass er am Kreuz von ihm ein Wunder erwartete. Aber Jesus hauchte unter Schmerzen und Klagen sein Leben aus.
Macht Enttäuschung den Glauben zunichte? Das wird sich auch Amos Oz schon oft gefragt haben. Gibt es Punkte im Leben, wo man alle Hoffnung aufgeben muss, wenn man nicht als Phantast dastehen will? Oder schlimmer noch als Verräter für diejenigen, die ohne Zweifel sind, was Weg und Ziel betrifft. Die nüchternen Realisten, die Kämpfer, die Macher und ihnen gegenübergestellt die Träumer, die Zaudernden. Man braucht Amos Oz ja nur anzusehen, um zu verstehen, dass er zur Minderheit der letzteren gehörte, schon als Kind und ganz junger Mann, dass das schwer für ihn war, weil er sich immer wieder abseits von einer Massenbewegung befand. Wie die Einsamkeit sich anfühlte, der übrigens niemand in diesem Roman entrinnen kann.
Das hat er in seinem Buch verarbeitet. Und er wäre nicht er selbst, wenn er mit deutlichen Etiketten „Richtig“ oder „Falsch“ hätte hantieren können. Gershom Wald, der alte Gelehrte, mit dem Schmuel Asch allabendlich diskutiert, hält glühende Reden gegen jegliche Weltverbesserungsideen, einfach weil die Unterdrückten nicht umhin können, sich selber als Unterdrücker aufzuspielen, sobald sie die Macht dazu haben. „Wenn wir die Welt nur einen Tag lang von allen Religionen und Revolutionen befreien könnten…, dann würde es weiniger Kriege auf der Welt geben, das verspreche ich ihnen.“ Auch eine Meinung, die der Autor wohl oft zu hören bekam. Bei Gershom Wald kommt sie aus einer schlimmen Erfahrung. Nach und nach enthüllt sich dem jungen Schmuel in diesem Haus eine Tragödie, in die auch jene rätselhaft schöne Atalja verwickelt ist, nur dass sie sich nicht mit so starken Worten Luft machen kann.
Ein spannender Roman, untergründig in vielerlei Hinsicht. Was Schmuel zur Geschichte der jüdischen Staatsgründung herausfindet, wird wohl so stimmen, auch wenn es für unsereins neu ist. Interessant findet man es, diskutierenswert, dass es damals auch andere Ansichten gab als die Ben Gurions, aber für israelische Leser ist das eben nicht nur eine theoretische Frage. Von vornherein keine Abgrenzung zu den Palästinensern, sondern ein friedliches Zusammenleben mit ihnen auf gemeinsamem Boden? Blockfreiheit, statt Bindung an den Westen? Eine ketzerische Idee, die angesichts von Realitäten schon jeglicher Grundlage entbehrt. Wie konnte Ataljas Vater, Schealtiel Abrabanel, die Ängste seiner Landsleute so gering schätzen? Sind sie nicht begründet gewesen, wenn man die heutige Wirklichkeit bedenkt? „Werkzeug des internationalen Imperialismus“, „selbstgerechter Nationalstaat“ – die Wucht solcher starken Worte im Buch wird nicht dadurch gemildert, dass ein Zwanzigjähriger sie ausspricht. Dass die Araber die Niederlage von 1948 nie vergessen würden, war damals womöglich eine These, Lesern von heute fällt es ins Herz, das voller Sorgen ist und Befürchtungen.
Es ist über weite Strecken ein sanftes Buch, der Verlag nennt es ja sogar einen Liebesroman. Aber es ist nicht so, dass sich unter den Gegenwartskonflikten ein Liebesroman verbirgt, sondern umgekehrt: Der Mond über Jerusalem, die zögernde Hand von Schmuel auf der Ataljas, seine zaudernde Natur , das gebrochene Bein nd die unzähligen Brote mit Käse, die er im Laufe des Buches isst, sie sind die Hülle für einen politischen Disput, den der Autor mit seinen Lesern durchaus weiterzuführen gedenkt.
Amos Oz: Judas. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Suhrkamp. 331 S., brosch., 12 €.,