Der neue Totalitarismus
Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“
Von Irmtraud Gutschke
Der Roman ist erstmals 1932 erschienen. Viel gelobt, viel zitiert, verfilmt, mehrmals neu aufgelegt – und jetzt eine dicke illustrierte Neuausgabe, obwohl kein rundes Jubiläum ansteht. Im S. Fischer Verlag irrte man sich nicht: „Schöne neue Welt“ passt zu dieser Zeit der Befürchtungen. Krisenhafte Zustände rufen autoritäre Bestrebungen auf den Plan. Unsereinem, die wir uns in einer offenen Gesellschaft einigermaßen gut eingerichtet haben, drohen Verluste an Freizügigkeit, Selbstbestimmung. Corona zeigte uns, wie Rechte jederzeit eingeschränkt werden können. Und wir erleben, wie die Möglichkeiten der Wissenschaft und Technik in einer Weise wachsen, dass wir uns kaum wehren können, wenn sie in unser Leben eingreifen.
Zur Züchtung von Menschen nach „Kasten“, wie in Huxleys Roman auf ebenso spannende wie bedrückende Weise beschrieben, mag es nicht kommen, aber wer kann voraussehen, welche genetischen Eingriffsmöglichkeiten es noch geben wird. Der neue Totalitarismus würde nicht dem alten gleichen, schrieb Huxley im Vorwort zu einer Ausgabe von 1946, das hier nachzulesen ist. „Der wahrhaft effiziente totalitäre Staat wäre der, in dem eine allmächtige Exekutive von Politbossen und ihr Heer von Managern eine Bevölkerung aus Sklaven kontrolliert, die man zu nichts zwingen muss, weil sie ihr Sklavendasein liebt … Damals habe ich mein Utopia sechshundert Jahre voraus in der Zukunft angesiedelt. Heute könnte man meinen, der Horror holt uns womöglich bereits innerhalb der nächsten hundert Jahre ein. Vorausgesetzt natürlich, wir können es uns in der Zwischenzeit verkneifen, uns mitsamt unserem Planeten zu pulverisieren.“ Was er befürchtet, ist eine Reihe nationalistischer, militarisierter totalitärer Regime, deren Fundament die Atombombe wäre , oder ein totalitäres „supranationales Gebilde, das um der erforderlichen Effizienz und Stabilität willen die Gestalt der Wohlfahrtstyrannei von Utopia annähme“.
Was für eine Voraussicht. Es mag einen schaudern. So sehr wir gerade jetzt die Vision einer anderen Gesellschaft nötig haben, besteht auch Grund, ihre Verwirklichung zu fürchten.
In seinen Grafiken zum Roman hat Reinhard Kleist ebenso dieses Heutige veranschaulicht. Von ihm stammen übrigens auch die Illustrationen zur Neuübersetzung von George Orwells Roman „1984“, der kürzlich bei S. Fischer in einer Neuübersetzung und mit einem ausführlichen Nachwort von Frank Heibert erschien. Zwei Bücher zur Zeit.
Aldous Huxley: Schöne neue Welt. Aus dem Englischen von Uda Strätling. Illustriert von Reinhard Kleist. S. Fischer Verlag, 351 S., geb. 38 €.