Big Brother – das Schreckgespenst
George Orwells „1984“ scheint dermaßen aktuell, dass aus drei Verlagen Neuübersetzungen gibt
Von Irmtraud Gutschke
Stoff für Masterarbeiten oder gar Dissertationen: Drei Verlage – S. Fischer, Insel und dtv – haben fast zeitgleich renommierte Übersetzer aus dem Englischen beauftragt, den berühmten Roman „1984“ von George Orwell (1903 – 1950) durch neue deutsche Fassungen wieder frisch auf dem Buchmarkt zu platzieren. Unabhängig voneinander haben sie sich ans Werk gemacht, was geradezu danach ruft, die Ergebnisse zu vergleichen. Frank Heibert ist im Vorteil, weil ihm S. Fischer die Gelegenheit gab, in einem ausführlichen Nachwort sein Herangehen zu erklären. Wie gesagt, eine Menge Stoff für die Sprachwissenschaft. Was mich interessiert, warum dieser millionenfach gedruckte Roman jetzt gleich in drei Neuausgaben erscheint.
Dass er sich unglaublich gut und spannend liest, ist nur einer der Gründe für seine Berühmtheit. In die Nöte und Zweifel von Winston Smith kann man sich hineinversetzen, wie er, obwohl in einen allmächtigen Parteiapparat eingebunden, seine Freiheit, seine Privatsphäre schützen will, vor allem seine Liebe zu Julia, die er am Ende zu verraten bereit ist. In die Fänge des Repressionsapparats geraten, wurde er durch Folter gefügig gemacht. Dieses Schicksal ereilt auch Julia.
Es ist dieser Schrecken, den man mit der Lektüre nicht mehr los wird, das Ausgeliefertsein an eine Macht, die Menschen sogar in ihrem Denken und Fühlen versklaven will. Big Brother – das Schreckgespenst ist angesichts heutiger technischer Möglichkeiten in vielen Wohnungen zu Hause. Da wirkt Orwells Voraussicht alles andere als beruhigend.
Weil er die bestürzende Geschichte als so gegenwärtig empfand, hat sie Frank Heibert in den Präsens gebracht. „Es war nicht, es ist“, hat er sein Nachwort überschrieben. Tatsächlich hat er, anders als die beiden anderen, den Text ins Präsens gebracht. Überhaupt war er derjenige, der sich die größte Freiheit der Übersetzung nahm, um „den Ton, im Geiste Orwells, einem heutigen ‚normalen‘ literarischen Stil“ anzunähern. Der Preis für literarische Freiheit gebührt wohl ihm. Man staunt ja, wie viele deutsche Varianten ein englischer Satz haben kann. Ich mag diese Ausgabe von S. Fischer besonders, zumal sie auch noch großartig illustriert ist. Durch Seitenzahl und Papierqualität liegt sie freilich schwer in der Hand.
George Orwell: 1984. Roman. Übersetzt und mit einem Nachwort von Frank Heibert. Illustriert von Reinhard Kleist. S. Fischer Verlag, 432 S., geb., 38 €.