Ein Weisheitsbuch für die Homöopathie
Irmtraud Gutschke
Dieses Buch ist ein Wunderwerk. Ein Glücksfall geradezu, weil die Autorin gleichzeitig klassische Homöopathin, Botanikerin und Gärtnerin ist. Dr. Michal Yakir lehrt klassische Homöopathie in Israel und verfügt über eine 30-jährige praktische Erfahrung in diesem Metier. Diese Praxis kommt in ihrem Buch zusammen mit der Fähigkeit, schwierige Zusammenhänge sehr anschaulich, einleuchtend zu erklären. Wobei all dem eine Begeisterung zugrunde liegt, die sie weitergeben will.
Dass sich die moderne Homöopathie die Anordnung der Mineralien, ihre Platzierung und Beziehungen im Periodensystem der Elemente zunutze macht, ist ihr plausibel. Generell ist das alte Wissen der Pflanzenheilkunde ja in Vergessenheit geraten. Andererseits aber ist eine Sehnsucht nach diesem alten Wissen zu beobachten. Gerade vor dem Hintergrund verstärkter Aufmerksamkeit für Umweltprobleme und damit auch für Naturphänomene spüren viele Menschen, dass da etwas verloren ist. Das Pflanzliche, Natürliche steht hoch im Kurs. Gleichzeitig ist es auch nicht so, dass die Homöopathie bisher auf Pflanzenmittel verzichtet hätte. Michal Yakir aber nimmt sie auf besondere Weise in den Fokus. Und das wichtigste: Sie erarbeitete dafür eine Systematik.
Basierend auf der botanischen Ordnung des Pflanzenreichs, hat sie in jahrzehntelanger Forschung eine Tabelle erstellt. In ihren Erkenntnissen bezieht sie sich zugleich auf klinische Beobachtungen und Prüfungen, ebenso wie auf zeitgenössische Homöopathen, zu denen nicht zuletzt auch Sankaran mit seiner Gruppe gehört. „Das Wesen von Pflanzen ist Entwicklung“, schreibt sie, ein evolutionärer Prozess, der sich im Laufe der gesamten Erdgeschichte vollzieht. Um diesen mit der menschlichen Entwicklung in Bezug zu setzen, sieht sie, wie von C.G. Jung treffend beschrieben, die Entwicklung des Ich, Separation und Individuation als maßgeblich an, ebenso wie die Entwicklungsstadien von der Geburt bis zum Alter.
So beginnt das Buch mit einer Einführung in die Botanik, die gut lesbar, geradezu spannend geschrieben ist: wie alles im Wasser begann, wie die ersten Landpflanzen zunächst samenlos waren. Moose und Farne sind Beispiele dafür. Es folgten Nacktsamer, zu denen die Koniferen gehören. Schließlich bildeten sich Pflanzen heraus, bei denen die Samen von einer Fruchthülle bedeckt sind. Was ich noch nicht wusste: „Die frühen Pflanzen hatten keine Blüten, wie wir sie jetzt kennen – nur Fortpflanzungsorgane, die im Wind ‚baumelten.“ Wenn sie sich nicht auf Windbestäubung verließen, entwickelten sie Blüten, um Insekten, Vögel anzulocken. „Sobald der potenzielle Bestäuber die Blüte berührt, wird er mit Pollen beladen, den er dann zu einer andere Blüte trägt“, es folgt die Befruchtung, Samen entstehen.
Darauf basierend hat Michal Yakir ihre Pflanzentabelle erstellt und sie, wie gesagt basierend vornehmlich auf der Psychologie C.G. Jungs mit der Entwicklung des Ichs „entlang der Achse des Selbst“ in Zusammenhang gebracht. Da bietet sich ein weiteres überaus interessantes Kapitel an, das auch Nicht-Praktikern der Homöopathie faszinierende Denkräume eröffnet, gerade weil es die Autorin so gründlich durchdacht hat, dass sie einleuchtende Worte dafür findet. We sich eine persönliche Identität herausbildet, ist mit einem Weg vergleichbar. Dem Übermaß des weiblichen wie des männlichen Prinzips ist zu entkommen, der eigene „Schatten“ ist zu erkennen und zu integrieren, schließlich muss eine Verbindung zu einem „größeren Ich“ hergestellt werden.
Wie all das in der hier dargestellten Pflanzentabelle seine Entsprechung findet, wird in den folgenden Kapiteln im einzelnen dargestellt. Auf allen Etappen des menschlichen Reifens können ja ungelöste Probleme entstehen. Wie die Autorin dies mit der jüdischen Religion, insbesondere auch mit der Kabbala in Verbindung bringt, ist überraschend und erhellend: „tsimtsum“ und „tikkun“, Empfang der Zehn Gebote und der Tora, die „guten“ und die „bösen“ Neigungen, die Tage der Schöpfung bis zum Tag des Sabbats, an dem die „Ur-Spaltung“ aufgehoben wird. Und das alles wird zugleich in einen Kontext der Menschheitsgeschichte gerückt, die zu einer „wachsenden Zusammenarbeit und weltweiten Einheit von Individuen“ tendieren muss, welche „sich ihrer selbst bewusst sind“. Um ihrer eigenen Gesundheit willen müssen sie sich als „Teil einer lebendigen, pulsierenden Einheit“ sehen.
Das alles reicht weit über den Bereich der Homöopathie hinaus. Auf ganz konkrete Weise gibt die Autorin Einblicke in Entwicklungspsychologie und erarbeitet eine entsprechende Systematik.
Den größten Teil des Buches umfasst eine detaillierte Materia Medica, geordnet nach den dargestellten Entwicklungsstadien von Spalte eins bis sechs. Sehr umfassende, genaue Arzneimittelbeschreibungen mit vielen Illustrationen – überhaupt ist das Buch aufwändig illustriert – und Fallbeschreibungen für über 650 Blühpflanzen aus zwei Gruppen „Einkeimblättrige“ und „Zweikeimblättrige“. Dabei sind auch viele neu geprüfte Pflanzen.
Die Aufmerksamkeit gerade für Pflanzenmittel zu schärfen, ist allerdings nur ein Effekt des Buches, das überhaupt voll überraschender Weisheit ist in Bezug auf Natur, Individuum und Gesellschaft. Auch wenn man es von der ersten bis zur letzten Seite studiert hat, möchte man es zu sich auf den Nachttisch legen, um jeden Abend darin zu blättern und immer wieder fasziniert zu sein. Aber im Bett zu lesen, wird nicht so einfach werden. Die fast tausend Seiten auf gutem Papier sind entsprechend schwer. Ein „Meilenstein der Homöopathie“ lobt der Verlag zu Recht. Es ist geradezu eine „Bibel“ für Homöopathen, eine Handreichung, das Leben, sich selbst und andere zu erkennen.
Michal Yakir: Die wundersame Ordnung der Pflanzen. Die Pflanzensystematik in der Homöopathie. Narayana Verlag, 947 S., geb., 168 €.