Thomas Oberender, seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele, hat sich lange nicht als Ostdeutscher empfunden und nennt seine Streitschrift nun „Empowerment Ost“. 1966 in Jena geboren, hatte er in der späten DDR „irgendwo zwischen James Baldwin, Perestroika und Neuer Deutscher Welle“ gelebt, während ich, Jahre älter, im „ND“ für ausländische Literatur zuständig war und Perestroika-Publikationen auf Russisch las. Wie er habe ich den „kurzen Frühling der Anarchie“ genossen, „in dem die DDR noch bestand, aber alles neu verhandelt wurde“. Dabei hätte ich für ihn damals zu den „Etablierten“ gehört.
Man könne „die politische DDR in vier Viertel teilen“, urteilt der Bürgerrechtler und Verleger Klaus Wolfram. „Das erste Viertel unterstützte den sozialistischen Versuch aktiv, das zweite passiv. Das dritte lehnte ihn passiv ab, das vierte aktiv, mehr oder minder.“ Wobei es auch innerhalb dieser Gruppen Unterschiede gab. Hoffnungen auf Reformen sind gerade auch innerhalb der SED gewachsen. Wer sich diesbezüglich als eigenständig empfand, wollte nicht mit den „Betonköpfen“ in einen Topf geworfen sein, während es von Ferne aussah, als säßen sie in einem Boot. Hinzu kamen später die „Wendehälse“. Bizarr war es, wie gerade unter Künstlern ein Abrechnungswahn um sich griff, als könnten sie sich dadurch neu andienen. Auf beiden Seiten sind Menschen daran zerbrochen.
Wie kann man in derlei historischen Turbulenzen die eigene Identität bewahren? Indem man sich treu ist ohne zu verhärten. Da beschreibt Thomas Oberender einen Schmerz, den „viele Menschen in Ostdeutschland“ kennen. Etwas hat sie verletzt. Die überhebliche Art, in der über sie gesprochen wird, die Rede vom „Unrechtsstaat“ bis hin zur empörenden Gleichsetzung mit dem Dritten Reich. Aber den Menschen in der DDR habe niemand Demokratie beibringen müssen. „Als die Angst verschwand“, bemerkt der Autor und Dramaturg, „kam eine über 40 Jahre ihres Bestehens tatsächlich tiefgreifend veränderte Mentalität zum Vorschein, eine von anderen sozialen Strukturen und Verhaltensweisen geprägte Gesellschaft, die durchaus auch ein Selbstbewusstsein jenseits des Klassenstatus hervorgebracht hat“.
Irmtraud Gutschke
Thomas Oberender: Empowerment Ost. Wie wir zusammen wachsen. Tropen Verlag, 108 S., br., 12 €.