Die Bestien im „dunklen Wald“
Jeong Yu-jeong vermag uns, mit einer unglaublich spannenden Geschichte zu packen
Ein junger Mann wacht morgens auf – blutverkrustet. Blut im Bett und auf dem Fußboden, rot-schwarze Fußabdrücke auf den Treppenstufen. Und unten die Mutter. Tot. Ein Schnitt zieht sich über ihren Hals. Bestürzung: Wer hat das getan? Alle Indizien weisen auf ihn selber. Nein, das kann er nicht glauben, und wir überlegen mit ihm, wer wohl einen solchen Verdacht auf ihn lenken wollte.
Den ganzen Roman über sind wir an der Seite dieses Ich-Erzählers. Die Autorin Yeong Yu-jeong, geboren 1966, hat nicht von ungefähr den Ruf eines „südkoreanischen Stephen King“. Das liegt auch an dem Anspruch, den sie an sich selber hat. Zwei Fassungen dieses Romans hat sie geschrieben, ehe es ihr in der dritten gelang, sich so weit in ihre Hauptfigur hineinzuversetzen. Der Zwiespalt, in den man beim Lesen gerät, ist Teil der Spannung, die so immens ist wie selten bei einem Buch. Man wünscht sich den jungen Mann doch unschuldig, auch wenn alle Indizien gegen ihn sprechen. Was würde man selber in seiner Lage tun? Alle Spuren beseitigen, um jedem Verdacht zu entgehen? Wie emotionslos er dabei vorgeht. Aber welche Chance hat er denn?
Ist er selbst ein Opfer? In gewissem Sinne ja. Jahrzehntelang wurden ihm auf Geheiß der Tante, die Kinderpsychiaterin ist, Tabletten gegen Epilepsie verabreicht, die erhebliche Nebenwirkungen verursachten. Seinen geliebten Schwimmsport hat er aufgeben müssen. Mutter und Tante überwachten ihn auf Schritt und Tritt. Verständlich, dass er die Arznei später zeitweise absetzte, um sich mal wieder frei und frisch zu fühlen. Wie viele Patienten tun das wohl jeden Tag der Nebenwirkungen wegen, die Ärzten angesichts einer ernsten Erkrankung oft ziemlich egal sind. Jeong Yu-jeong kennt sich aus, hat sie doch nach einer Ausbildung und Tätigkeit als Krankenschwester als Sachverständige der staatlichen Gesundheitsversicherung Erfahrungen erworben.
Aus Angst vor einem Anfall gönnt sich Yu-jin nur zeitweise, was er eine „magische Phase“ nennt. „Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Ohrensausen verschwinden, während sich meine fünf Sinne schärfen. Mein Geruchssinn wird so ausgeprägt wie der eines Hundes. Das Gehirn arbeitet effizienter als üblich, und ich nehme die Welt mit meinen Instinkten statt mit meinem Hirn wahr.“ Wenn er sich auf diese Weise „kraftvoll und überlegen“ fühlt, entwischt er der Aufsicht nachts über die Terrassentür der Penthouse-Wohnung. Ja, mein Gott, er will leben, will sich gut fühlen. Hat er kein Recht dazu?
Und vor allem: Was soll er nun tun? In sich hat er einen Optimisten, den er „Team Blau“ nennt. Der will ihm sagen, alles sei nur ein böser Traum. „Team Weiß“, der Realist, aber verlangt, dass er die Situation durchschaut. Ja wir erleben ihn sogar, wie er sozusagen gegen sich selbst ermittelt. Wie ein Detektiv geht er vor, um alles herauszufinden, wobei er sein näheres Umfeld analysieren muss: die Mutter, die Tante, den geliebten Stiefbruder, den toten Bruder Yu-Min, bei dessen vergeblicher Rettung aus dem Meer der Vater starb. Irgendwann werden wir alles wissen, wodurch die Sache auch nicht einfacher wird…
Jeong Yu-jeong erzählt minutiös, jede Regung Yu-jins nimmt sie in sich auf. Dabei habe sie sich selbst in jenen „dunklen Wald“ wagen müssen, der, wie sie sagt, auch in ihr selber ist. „Dort ruht alles, was im menschlichen Leben Probleme verursacht – Eiersucht, Begierde, Hass, Wut, Verzweiflung, Minderwertigkeitsgefühle, Gewalt und Opfermentalität. All diese Bestien in unserem Inneren erwachen jedoch nicht von allein. Sie müssen entzündet werden. Jemand oder etwas muss in diesem Wald das Feuer entfachen.“
Jeong Yu-jeong: Der gute Sohn. Thriller. Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel. Unionsverlag, 316 S., geb., 16,99 €.