Jeder kocht sein eignes Süppchen
Ein spannender Justiz-Krimi zum Einsatz Künstlicher Intelligenz
Irmtraud Gutschke
Würde man bei einer Operation lieber einem erfahrenen Ärzteteam vertrauen oder einer Maschine, die noch nie Fehler machte? Erstens weiß man nicht, wie gut die Ärzte sind, zweitens fragt man sich, ob es im Programm nicht doch mal einen Aussetzer geben könnte, und drittens hat man doch eigentlich gar keine Wahl und muss froh sein, dass ein Operationstermin frei ist und einem geholfen wird. Für Jens Dauber schien es nur ein Routineeingriff zu sein: Ein Bypass musste gelegt werden, um ihm die Amputation seines Raucherbeins zu ersparen. Es war die Chefärztin selbst, die dem Operationsteam vorstand und nun erleben muss, wie der während der Patient während der OP verstirbt.
Jens Dauber hatte einen anaphylaktischen Schock erlitten, nachdem ihm ein Kontrastmittel gespritzt worden war. Dabei hatten die Ärzte streng nach dem Behandlungsplan gehandelt, der mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz erstellt worden war. Die hält Sasha Müller für präzise und verlässlich, weil sie nicht nur Zugriff auf alle relevanten Daten des Patienten eröffnet, sondern zugleich auf wichtige medizinische Erkenntnisse aus aller Welt. Auf den ersten Seite des Buches erleben wir die energische Ärztin, wie sie in einer Talkshow vehement die KI gegenüber einem skeptischen Professor verteidigt. Nun aber steht die Frage, ob sie einen ärztlichen Kunstfehler begangen oder ob die KI sich geirrt hat. Wie aber wäre letzteres zu beurteilen?
Beide Autoren kommen vom Fach. Florian Schwiecker ist Experte für „Medical KI“ und hat viele Jahre als Strafverteidiger gearbeitet. Michael Tsokos ist Professor für Rechtsmedizin und zudem Bestsellerautor. Wie hier Insiderwissen zusammenfließt, verbunden mit spannungsvollem Erzählen, kommt dem Buch zugute. Sasha Müller wurde von der Familie des Toten verklagt. Mit Rocco Eberhard muss sie sich einen Verteidiger engagieren. Dessen Kontrahentin ist Oberstaatsanwältin Dr. Bunzel. Aber er bekommt auch Unterstützung durch seinen Freund Tobias Baumann, der detektivische Erfahrung hat.
Gleich kommt auch die schwedische Firma Augmentum ins Spiel, von der die betreffende KI-Technologie stammt. Der Firmengründer Erik Andersson ist inzwischen als Geschäftsführer abgelöst, weil er für einen hauptsächlich auf Rendite orientierten Kurs nicht zu taugen scheint. Dennoch wird er nach Berlin geschickt, um Schaden abzuwenden. Was kaum gelingen kann, zumal Jule Hermann, die jüngste Mitarbeiterin bei der einflussreichen Tageszeitung „Das Blatt“, ihre Chance nutzen will, mit einer reißerischen Story ihren Aufstieg zu machen.
So hat dieser „Justiz-Krimi“ einen authentisch nachvollziehbaren gesellschaftlichen Hintergrund: Verschiedene Personen sind verwickelt – in der Justiz, der Rechtsmedizin, dem Gesundheitswesen, der KI-Branche -, die mit dem Todesfall auch eigenen Interessen verbinden. Niemand möchte einen Fehler nachgewiesen bekommen, alle streben sie nach persönlichem Erfolg.
Vor dem Kriminalgericht Moabit kommt das nun alles zusammen. Allerdings gibt es dort strenge Regeln, nach denen gespielt werden muss. Über weite Teile folgt das Buch tatsächlich dem beliebten Fernsehgenre des Gerichts-Krimis, in dem eine überraschende Wendung am Schluss geradezu obligatorisch ist. Die sei auch hier versprochen. Man wartet nicht vergeblich darauf und wird dann vielleicht zu den ersten Seiten zurückblättern, wo Sasha Müller voller Leidenschaft die Notwendigkeit der KI in der Medizin erklärt: „Einer wachsenden, immer älter werdenden Bevölkerung steht eine immer kleiner werdende Anzahl medizinischen Fachpersonals gegenüber.“ Im Klartext: Es geht um Rationalisierung und Kostenminimierung wie überall.
Ein rasanter Text, aufgeladen mit gesellschaftlicher Brisanz, die beide Autoren unterschwellig herausgearbeitet haben, Denn was sich hier abspielt, ist so erschreckend wie alltäglich: Jeder kocht sein eignes Süppchen.
Florian Schwiecker/ Michael Tsokos: Der 1. Patient. Justiz-Krimi. Knaur, 344 S., br., 12,99 €.