„Heiliger Sherlock“
Von Irmtraud Gutschke
Auch wenn sie der Empfehlung „von zehn Jahren an“ noch fünfzig, sechzig hinzufügen müssen, gönnen Sie sich das Vergnügen. Zumal wenn Sie die guten alten englischen Detektivromane mögen und die vielen Sherlock-Holmes-Versionen, die es inzwischen gibt. Mit dem verrückten Sherlock von Benedict Cumberbatch mag es der Detektiv Rory Shy wohl aufzunehmen, was seine exzentrischen Ermittlungsmethoden betrifft. Manchmal berührt er Gegenstände nur, manchmal leckt er sogar an ihnen – und Bilder tauchen in ihm auf. Vor allem aber ist er bei all seiner Genialität extrem schüchtern und von den verschiedensten Ängsten geplagt. Deshalb ist es ja so wichtig, dass er die zwölfjährige Matilda Bond zur Seite hat.
Im ersten Krimi von Oliver Schlick, „Rory Shy, der schüchterne Detektiv“, den ich auch schon großartig fand und der auch auf dieser Webseite zu finden ist, haben sich die beiden erst kennengelernt und schon mal ein Rätsel zusammen gelöst. In der Villa einer Millionenerbin war eine Perle verschwunden, was allerlei Verdächtigungen auslöste. Wie erleichtert war Charlotte Sprudel, als sich alles klärte. Rory Shy schenkte sie ein Erröten, denn sie war genauso schüchtern wie er. Inzwischen aber haben sich die beiden offensichtlich gefunden. Statt in ihrer riesigen Villa übernachtet Charlotte am liebsten in der kleinen Wohnung des Detektivs. Dass sie ihm ihre Luxuslimousine nebst Chauffeur zur Verfügung stellt, findet Matilda wunderbar, und zuletzt kann der 86-jährige Amadeus sogar beweisen, dass er mehr als nur fahren kann.
Wer Krimis liebt, in denen man die Leichen kaum zählen kann, kommt hier nicht auf seine Kosten. Ein Kunstliebhaber wird zusammengeschlagen, um sein neu erworbenes Bild zu stehlen – „Die rote Libelle“ eben – , doch er erholt sich wieder. So viel darf verraten sein. An der Seite von Matilda, der kessen Ich-Erzählerin (während der Abwesenheit ihrer Eltern muss sie für die strenge Haushälterin Gründe erfinden, warum sie das Haus verlässt) stürzen wir uns in fröhliche Rätselraten, das der Autor uns zusätzlich durch viele turbulente Einfälle und Situationskomik schmackhaft macht. Wie im klassischen Krimi gibt es nur eine überschaubare Zahl von Verdächtigen, wobei wir uns wohl irren, wenn wir meinen, vor Ende des Buches schon alles zu wissen. „Heiliger Sherlock“, entfährt es Matilda, als schon wieder eine neue Mutmaßung aufscheint. „Je weiter dieser Fall fortschreitet, umso verwirrender wird er. Vor allem weil sich die Frage nach Schein und Sein, Lüge und Wahrheit, Echt und Falsch wie ein roter Faden durch unsere Ermittlungen zieht. Alles scheint einen doppelten Boden zu haben.“ Und nach diesem sind wir nun auf der Suche, in schöner Gewissheit, dass sich am Schluss alles ordnen wird.
Rory Shy, immer höflich, schenkt dem Polizeikommissar Valko seinen Erfolg wie schon im vorigen Krimi und hat deshalb weiterhin etwas gut bei ihm. Ja, ich weiß, das ist ein Klischee, aber das englische Krimimuster von Arthur Conan Doyle und Agatha Christie ist doch nicht das schlechteste. Wenigstens erspart es uns den Anblick von entführten Frauen in Handschellen und schrecklich durchgeknallten Polizisten, die dauernd mit ihren Pistolen herumfuchteln. Also sage ich es geradeaus: Ich würde mir wünschen, dass „Rory Shy“ zu einer richtig schönen Fernsehserie wird. Mit einer solchen hat der Detektiv hier ja sogar zu tun. Und ehe das passiert, freue ich mich auf einen neuen Band im nächsten Frühjahr.
Oliver Schlick: Rory Shy, der schüchterne Detektiv. Der Fall der Roten Libelle. Ueberreuter, 343 S., geb., 14,95 €.