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Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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Marie Benedict: „Mrs. Agatha Christie“

Berühmt und bedrückt?

Marie Benedict geht auf spannende Weise einem Rätsel im Leben der berühmten Krimiautorin nach

Von Irmtraud Gutschke

Krimis leben davon, dass eine mehr oder weniger geordnete Welt einen Riss bekommt. Der wird im klassisch englischen Krimi wieder geschlossen, das Verbrechen wird aufgekehrt und es muss dabei auch nicht blutrünstig zugehen. Sherlock Holmes oder Miss Marple brillieren mit ihren geistigen Kräften, an denen wir uns messen dürfen. Ja, wir sind im Wettstreit mit der Detektivin, dem Detektiv, weil uns deren Anhaltspunkte ja mitgeteilt werden, allerdings versteckt, wir müssen sie erst finden und unter mehreren falschen Fährten die richtige raussuchen. Wobei wir auch in eine Atmosphäre hineingezogen werden wollen, eine andere Zeit, einen anderen Ort spüren mit allen Sinnen.

Da bezieht sich der Roman „Mrs. Agatha Christie“ der jungen US-amerikanischen Autorin Marie Benedict schon im Titel auf die britische Krimitradition. Er hat einen authentischen Hintergrund: Am Abend des 3. Dezember 1926 hat Agatha Christie tatsächlich ihr Haus verlassen, nachdem sie am Morgen mit ihrem damaligen Ehemann Archibald Christie in einen Streit über seine Affäre mit Nancy Neele geraten war. (Auch sie gab es wirklich, und Archie würde sie zwei Jahre später heiraten.) Die Polizei wurde eingeschaltet, als Agathas Wagen am nächsten Morgen an einem See gefunden wurde. Selbstmord? Mord? Verwirrung und Flucht?

Marie Benedict ist nicht die erste, die sich diesem nie ganz aufgelösten Rätsel im Leben der berühmte  Kriminalautorin zuwendet. Es gab schon Romane zum Thema und 1979 sogar einen Film „Das Geheimnis der Agatha Christie“. Andrew Wilson löste das Rätsel in „Agathas Alibi“ (2017), indem er einen üblen Erpresser ins Spiel brachte. Und Marie Benedicts Version findet sich auch schon in Barbara Sichtermanns Agatha-Christie-Biografie von 2020. Die Schriftstellerin selbst sagte in ihrer 1977 erschienenen Autobiografie dazu nur so viel: „Wenn man den Blick zurück wendet, hat man das Recht, Erinnerungen, die einem zuwider sind, zu ignorieren.“ Der Version eines Gedächtnisverlusts widersprach sie nicht. Schließlich hatte sie kurz zuvor ihre Mutter verloren.

Die Handlung bewegt sich auf zwei Ebenen: Das „Manuskript“ erzählt aus Agathas Sicht die Geschichte dieser Ehe – von der ersten Begegnung mit Archie, dem betörenden Fliegeroffizier, am 12. Oktober 1912 bis zum 3. Dezember 1926, als die letzte Hoffnung erstirbt, ihre Ehe zu retten.

Damit kapitelweise abwechselnd die tageweise Chronik vom 3. bis 14. Dezember 1926, als Agatha Christie in einem Kurhotel unter dem Namen Mrs. Neele wieder auftaucht. Das kann ich verraten, denn Mord oder Selbstmord kamen beim Lesen ja nie in Betracht. Schließlich hat Agatha Christie nach 1926 noch eine Reihe berühmter Krimis geschrieben. Miss Marple sollte erst noch erfunden werden.

Dass sie Archie vor ihrem Verschwinden einen Brief geschrieben hat, ist eine Erfindung. Die Autorin hat spürbaren Spaß daran, den Treulosen wie einen Fisch an der Angel zappeln zu lassen. Köstlich zu beobachten, wie er gegenüber der Polizei den besorgten Ehemann mimt und dabei seine Panik versteckt, dass seine Affäre mit Nancy Neele offenbar wird. Deren Namen hat er ja aus der Scheidung heraushalten wollen. Wie genau Agatha ihm diesbezüglich einen Strich durch die Rechnung macht und welche Rolle ihr Manuskript dabei spielt, soll hier nicht verraten werden.

Was mir von der durchaus spannenden Lektüre zurückbleibt, ist die Erkenntnis, wie unglaublich eingeschränkt weibliches Leben noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war. Wie Agatha von ihrer Mutter ermahnt wird, nicht das Kind, sondern der Ehemann müsse an erster Stelle stehen und dürfe sich niemals vernachlässigt fühlen. Wie sie sich bemüht, Archie alles recht zu machen und wie sie ihre Tochter Rosalind der Gouvernante überlässt. Wie sie ihr Glück im Schreiben findet, das ihr Mann niemals wirklich anerkennt. Wie sie das verbergen muss, sich ihm zuliebe aufreibt an häuslichen Pflichten. Marie Benedict, 1973 in Pittsburgh geboren, bekannt auch durch Romane wie „Frau Einstein“ und „Lady Churchill“, hat weibliche Emanzipation zum Lebensthema gemacht.

Marie Benedict: Mrs. Agatha Christie. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Marieke Heimburger. Kiepenheuer & Witsch, 316 S., br., 16 €.

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