Furcht, Schuld – Verlangen
Janet Lewis schildert eine historischen Kriminalfall zu Zeit des Sonnenkönigs
Zu Beginn sieht man die Familie des Buchbinders beim Abendessen und steht gleichsam unsichtbar mit bei ihnen im Zimmer, beobachtet im Licht des verglimmenden Kaminfeuers Jean Larcher, seine um einiges jüngere Frau und den von beiden geliebte Sohn, der schon in der Werkstatt des Vaters mitarbeitet. Es könnte ein Familienidyll sein, aber es ist sofort auch von Not die Rede, von obdachlosen, kranken und hungernden Menschen, die den ganzen Winter durch die Straßen zogen, von Schlägereien, wenn auf dem Markt Brot verkauft wurde. Wer sich eine lebendige Vorstellung machen will, wie es im Paris des Jahres 1694 zuging, ist in diesem Buch richtig. Wer eine spannende Kriminalstory sucht, natürlich auch.
Der Roman ist 1959 erstmals in den USA erschienen und wurde jetzt erst für deutsche Leser entdeckt, was folgerichtig war, weil die Autorin mit „Die Frau, die liebte“ und „Der Mann, der seinem Gewissen folgte“, 2018 und 2019 ebenfalls übersetzt von Susanne Höbel im Deutschen Taschenbuch Verlag, schon ein begeistertes deutsches Leserpublikum hat. Wobei es, so vermute ich, vor allem Leserinnen sein dürften, weil Janet Lewis natürlich den Frauen in ihren Romanen besonders nahe steht. 1888 in Chicago geboren, ist sie wie aus dem Nachwort von Julia Encke zu erfahren ist, mit Ernest Hemingway zur Schule gegangen und hat wie er Texte für die Literaturzeitschrift der Highschool geschrieben. Aber es war ein viel braveres Leben als das des Abenteurers, der zu einem weltberühmten US-amerikanischen Schriftsteller werden sollte. Sie studierte französische Literatur, lernte mit 28 Jahren den Dichter und Literaturkritiker Yvor Lewis kennen, zog zwei Kinder groß. Irgendwann, als sie schon in mittleren Jahren war, bekam sie von ihrem Mann ein Buch über historische Kriminalfälle geschenkt. Das wurde der Anstoß für ihr Schreiben, weil sie sich besonders für jene Fälle interessierten, in denen sie ein Flackern von Gewissensqual gewahrte, eine tragische Verstrickung..
„Er senkte die Wange auf ihren Kopf und hielt sie fest an sich gedrückt, und alle Gefühle – Zweifel, Furcht, Schuld –, die sie beide so viele Monate lang gequält hatten, mündeten in das Verlangen, das sie vereinte, und sie hielten sich in dem dunklen Raum umklammert.“ Sind wir in diesem Moment, auf Seite 361, noch ganz im Mitgefühl mit ihnen vereint? Wir haben gerade einen Galgen gesehen, an dem ein Unschuldiger gehenkt wird…
Nicht nur, dass Janet Lews den Kriminalfall bis zum unerwarteten Schluss überaus spannend vor uns aufzurollen versteht, ein großer Reiz des Buches erwächst aus der Atmosphäre des Ortes und der Zeit, in die sie uns führt. Sie hat genau recherchiert. 1950 hatte sie ein Stipendium in Paris, um an dem Roman zu arbeiten. Wenn ihr Stil durch Literaturkritikern mit großen französischen Romanen des 19. Jahrhunderts verglichen wird etwa von Stendhal und Maupassant, so ist das allein schon dadurch begründet, dass sie deren Werk einst an der University of Chicago studierte.
Auslöser für den Konflikt im Roman ist ein Pamphlet, das in den Straßen von Paris kursierte und eifrig gelesen wurde, weil es die Mätressenwirtschaft des Königs angriff. Ludwig XIV, der sich als Sonne seines Jahrhunderts verstand, strahlend, aber auch brutal, egozentrisch und verschwenderisch, konnte das nicht durchgehen lassen, zumal da im Hintergrund, wie er wusste, noch anders drohte: „die eigene körperliche Erschöpfung und das verarmte Frankreich“. Da führt das Buch auch an den Königshof mit seinen Querelen und Intrigen, mit seinen uns heute seltsam erscheinenden Riten. Wie ein kleines Kind, wurde der König morgens um acht geweckt und angezogen, scheint für Minuten von Skrupeln geplagt, ehe er wieder zum skrupellosen Gewaltherrscher wird, wie es seiner Rolle entspricht.
Janet Lewis: Verhängnis. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel. Mit einem Nachwort von Julia Encke. Deutscher Taschenbuch Verlag, 448 Seiten, 24 €.