Das schlimmstmögliche Geheimnis
Monster oder Menschen? Den Roman von Jan Costin Wagner wird man nie mehr vergessen
Irmtraud Gutschke
„Da läuft eure Pressekonferenz“, sagt Svea, als Ben nach Hause kommt. Er sieht sich selbst, wie er als leitender Ermittler über ein Netzwerk von Pädophilen spricht. Mehrere tausend User seien darin verstrickt. „Stell dir doch mal vor“, sagt seine Frau. „Dass so jemand in deinem Haus lebt. Einige von denen sind verheiratet, oder?“ „Ja … das stimmt.“ „Das sind keine Menschen, das sind Monster. Ihr müsst die alle finden … Die müssen dafür bezahlen … Alle.“
Diesen Dialog hat der Verlag aufs Cover gedruckt. Kaum eine Rezension dürfte ohne ihn auskommen. Auf den Punkt gebracht ist die Kontroverse, die man die ganze Zeit auch mit sich selber austrägt. Kurz nach Erscheinen kam „Einer von den Guten“ schon auf Platz 1 der Krimi-Bestenliste. Doch ist es kein Krimi im klassischen Sinne. Action-Thriller sind sowieso des Autors Sache nicht.
„Ich suche immer die Felder, die mir ermöglichen, dahin zu gehen, wo ich noch nie gewesen bin“ – Jan Costin Wagner ist ab 2003 durch seine Finnland-Krimis berühmt geworden. Verheiratet mit einer Muttersprachlerin, übersetzt er auch finnische Literatur. Wie liebte ich die sechs Bücher um den melancholischen Kommissar Kimmo Joentaa. Seine Frau ist an Krebs gestorben, das prägt sein Verhältnis zu den Lebenden. Weil er wägend in sich hineinlauscht und fühlend denkt, ist er ein so guter Ermittler. Er versteht, statt zu urteilen, und geht ins Risiko. Eine Frau nimmt er bei sich auf, von der er kaum was weiß. Im letzten Band der Reihe wird er Zeuge, wie ein Polizist in Turku einen jungen Mann erschießt, der nackt mit einem Messer im Marktbrunnen steht. Tatsächlich wurde 2013 auf dem Berliner Alexanderplatz ein nackter 31-Jähriger in dieser Pose von der Polizei getötet.
Die Nachricht, dass ein Kind auf offener Straße verschwand und später tot aufgefunden wird, ist dann Anregung für „Sommer bei Nacht“ gewesen, den ersten Band um Ben Neven. Statt flirrender finnischer Weite nun Dortmund, Wiesbaden und ein Thema, das schon mancher Fernsehfilm kolportierte: Kindesentführung, Missbrauch. Das trifft ins Mark. Ben hat den fünfjährigen Jannis gerettet und den Täter abgeknallt, statt ihn zu verhaften. Im folgenden Buch, „Am roten Strand“, wird deshalb gegen ihn ermittelt. Er kann sich rauswinden und fragt sich, ob es Selbsthass war. Er merkt doch, wie ihn das pornographische Beweismaterial selber süchtig macht. Und er geht sogar noch einen Schritt. Brennendes Schamgefühl und unerfüllbare Sehnsucht – über einen brüchigen doppelten Boden lässt uns der Autor gehen. Im vorliegenden Roman spitzt sich alles noch zu.
Das Cover zeigt einen Mann, der voll bekleidet von einem Sprungturm fällt, rücklings, als ob ihn jemand gestoßen hätte. „Immer schon habe ich über Menschen geschrieben, die auf der Kippe stehen“, bekennt der Autor. „Ben Neven ist für mich die Figur mit der größten Fallhöhe.“ Als ich den Roman zum ersten Mal las, nahm ich das Titelbild nicht ernst und hoffte, dass Ben seine Konflikte noch irgendwie löst. Das Buch lebt ja davon, dass man sich in ihn hineinversetzt. Wie er nachts seiner Kollegin Maren beisteht, ihre leidende Katze in die Tierklinik zu bringen, empfand ich damals als beiläufig. Jetzt erkenne ich eine wichtige Szene. „Drangwandern“ bei Tieren deute auf eine neurologische Störung hin, meint die Ärztin. „Gut, dass deiner Katze jetzt geholfen wird“, sagt Ben.
Er will seine Existenz nicht verlieren, will „einer von den Guten“ sein. Doch seit er „seinem Jungen“ das erste Mal begegnete, zieht es ihn in immer kürzeren Abständen zu jenem Parkplatz. Einmal, als er schon in Sichtweite ist, holen Polizisten einen dicken Mann aus seinem Auto und auch den Jungen, der neben ihm gesessen hat. „Seinen Jungen“. Ein paar Meter weiter und seine Kollegen hätten ihn erkannt. Schlimmer noch ist indes der Gedanke, dass er für Adrian nicht der Einzige ist.
Abwechselnd mit „Ben“ und „Adrian“ sind die meisten der 35 Kapitel überschrieben. Das Kunststück war, so nahe wie möglich an die Figuren heranzutreten, sie zu begleiten in einen Raum, „wo wir noch nie hingeschaut haben“, und gleichzeitig die Distanz zu wahren, um etwas zu erzählen, das zutiefst verstören muss. Adrian aus Rumänien, 13 Jahre alt, wird von seinem Vater gnadenlos auf den Straßenstrich geschickt. Wie kann Ben denn glauben, dass seine Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhen! Wenn Adrian mit Freiern zusammen ist, folgt er dem Rat seines Freundes: sich in fühllose Materie zu verwandeln, in „Zeug“. In Wahrheit aber wird er zum Objekt gemacht.
„Mein Schreiben lebt davon, eine Sprache zu finden für die Innenschau dieser Menschen, die sich in einer extremen Situation befinden und auf Erlösung hoffen.“ Ob es nicht fast zu schön sei, um wahr zu sein, wie er Adrian im Buch Erlösung verspricht, frage ich den Autor. Er lächelt: „Das wollte ich so.“ Und Ben? Mehrmals während der Buchpremiere tritt Jan Costin Wagner an sein E-Piano. Er ist ja auch Musiker, hat von Kindheit an gern improvisiert. Melodisch, sanft perlt da eine Melodie, so traurig, als ob er seinen Text in Klänge übersetzen wollte.
„Ich bin hingezogen. Ich fühle mich hingezogen. Ich empfinde für Jungs“. Das schlimmstmögliche Geheimnis: Wenn Ben es bekennt, wird er Frau und Tochter verlieren, die er ja liebt. Die Polizei würde ihn suspendieren und nach Strafbarem suchen. Als „Kinderschänder“ im Knast – da wäre man wohl lieber tot. „Ich wollte das Monster zeichnen, ohne den Menschen dahinter preiszugeben“, sagt Jan Costin Wagner. Nicht um des Tabubruchs willen, habe er einen Tabubruch geschildert, sondern um ein Thema zur Sprache bringen, das nach Diskurs verlangt. „Weil das Menschen sind, die sich in einem tiefen Dilemma befinden, aus dem sie nicht herausfinden, über das sie nicht einmal reden können.“ Auch wenn es einfache Lösungen nicht gibt: „Auf Literatur vertraue ich absolut. Mit ihr kann ich dorthin gehen, wo der Nerv sitzt.“
Diesen Roman wird man nie mehr vergessen.
Jan Costin Wagner: Einer von den Guten. Roman. Galiani Berlin, 202 S., geb., 23 €.