„Glauben Sie an Geister“
Xavier-Marie Bonnot macht uns atemlos beim Tauchen in Höhlen und Seelen
Es ist sein Markenzeichen seit jeher gewesen: das Rätselhafte, ja Mystische, das wir bei all unserer Rationalität nicht ganz von der Hand weisen können. In „Die Melodie der Geister“ war die Aufklärung ominöser Morde in Marseille von einem seltsamen Flötenton begleitet, und die Spur führte nach Papua-Neuguinea. „Im Sumpf der Camargue“ wurde die provenzialische Sage von der Tarasque, einem schrecklichen Drachen, wiederbelebt, allerdings ging es dann doch um ganz heutige Dinge. Und im neuen Roman, „Der erste Mensch“, wird der Ermittler Michel de Palma, genannt der Baron, sogar zum Höhlentaucher. Denn ein solcher ist ums Leben gekommen, weil er aus 38 Metern Tiefe fluchtartig nach oben kam. Wovor ist er geflohen? Was ist ihm widerfahren? Gibt es eine Schuld? „Jemand oder etwas?“ Eine Frage, die es in sich hat.
Ob sie an Geister glaube? Das kann die Unterwasserarchäologin Pauline Barton nicht forsch verneinen. Als Wissenschaftlerin hat sie sich ja auch mit jenen magischen Praktiken zu beschäftigen, die für unsere Vorfahren zum Alltag gehörten. Für de Palma stellen sich bald Zusammenhänge her zwischen dem Dekompressionsunfall in der Unterwasserhöhle und mehreren Morden, die einem jungen Mann namens Thomas Autran zur Last gelegt werden. Der befindet sich in lebenslanger Sicherheitsverwahrung, wird aber im Laufe der Handlung fliehen. Seine Schwester Christine, die als Professorin für Paläontologin mehrere Bücher und einen Artikel „Zeit der Zauberer“ verfasste, war damals mit angeklagt und wird nun von de Palma befragt. Natürlich ergeht sie sich in Rätseln.
Bei einem Krimi liest man im allgemeinen atemlos auf eine Aufklärung der Geheimnisse hin. Wie man hier mit jeder Seite bedauert, dass der Lesestoff schwindet, widerspricht eigentlich herkömmlicher Krimispannung. Man weiß: Um die Mysterien unserer Vorfahren zu entschlüsseln, braucht es mehr als dieses Buch. Und wie sieht es mit denen heutiger Menschenseelen aus?
Von Höhlenmalereien hat ja wohl jeder schon mal gehört. In 150 Höhlen in Frankreich – die berühmteste ist Lascaux –soll es Beispiele eiszeitlicher Kunst geben. Manch einer hat vielleicht das eine oder andere sogar zu Gesicht bekommen, aber nach der Lektüre dieses Romans wird man anders darauf schauen. Mit größerer Aufmerksamkeit, mit mehr Staunen und ohne die Anmaßung, wie weit wir unseren Vorfahren überlegen sind. Von ihrem Weltbild sind wir getrennt durch das unsrige. Ein zeitlicher, aber auch geistiger Graben ist zwischen uns. Mehrere Leute im Buch sind bemüht, ihn irgendwie zu überwinden.
Eine wichtige Rolle spielt die Statuette eines Mannes mit Hirschkopf, die bei Ausgrabungen gefunden und dann offensichtlich gestohlen worden ist. Im Internet finden sich Abbildungen solcher Hirschkopfmenschen, verbunden mit der Mutmaßung, dass sie Schamanen darstellen. Da tut sich eine kleine Brücke auf zu verbreiteten Hoffnungen auf Wunderheilung heute. Und zur Psychoanalyse: „Mit dieser Figur, die halb Mensch halb Tier ist, hat ein prähistorischer Künstler das Unbewusste dargestellt“, erklärt ein Professor für Urgeschichte im Roman, der offensichtlich mit jener Christine liiert war. „Ob Psychoanalytiker, Psychiater oder Prähistoriker, letztlich treffen wir uns auf ein und demselben Terrain.“ Schamanismus, Geistesverwirrung und künstlerischer Antrieb – in solche Zusammenhänge tauchen wir mit de Palma hinab, finden aber mit ihm auch immer wieder heraus.
Im Auto sitzen wir neben ihm und lauschen Opernarien. Wie viele Kriminalisten mag es wohl geben, die sich dermaßen mit Komponisten, Dirigenten und Interpreten auskennen? Der Mann lebt in der Musik – mehr als für den Polizeidienst. Für den hat er wohl eine besondere Begabung und kann sich doch nicht mit seiner Aufgabe abfinden, einfach nur Verbrecher in den Knast zu bringen. Das heißt, er geht nicht ganz in der Gegenwart auf, was seine praktisch veranlagte Frau (wie oft muss unsereins in solche Rollen) nicht immer versteht. „Wir haben die Mörder, die wir verdienen“, sagt er zu ihr. „In vielen Kulturen gibt es keine Mörder wie Autran, denn dort werden solche Menschen erkannt, bevor sie entgleiten. Sie sind dort Teil der Gesellschaft. Wir dagegen machen da keinerlei Fortschritte.“ Und er fügt einen Spruch von Michel Foucault hinzu, den man sich durch den Kopf gehen lassen muss: „Der Weg vom Menschen zum wahren Menschen führt über den verrückten Menschen.“ Das ist nicht nur ein Appell gegen Ausgrenzung, die alle beschädigt, sondern schließt auch die Erkenntnis ein, dass Leben zu jeder Zeit in ein System von Anschauungen eingebettet ist, die sich aus der Distanz relativieren.
In welchem Mythos dieses Kind wohl leben würde, fragt sich der „Baron“, wenn er an seinen noch ungeborenen Enkel denkt. Inzwischen Hauptkommissar, steht er kurz vor seiner Pensionierung. Sein letzter Fall? Das wird Xavier-Marie Bonnot uns doch wohl nicht antun wollen.
Irmtraud Gutschke
Xavier-Marie Bonnot: Der erste Mensch. Kriminalroman. Aus dem Französischen von Gerhard Meier. Unionsverlag, 352 S., br., 19 €.
Zum Shop des Verlages: http://www.unionsverlag.com/info/title.asp?title_id=7619