Ein Lob der Entrückung
Die Wunder und die Neugier – darum geht es. Dass wir uns vom Alltag nicht verschlucken, Phantasie in uns wachsen lassen und bei allem Vorwärtsstreben das Staunen nicht verlernen. Das Staunen über etwas, das größer ist als wir selbst. Da hat der Sohn eines Farmers aus Vermont erst Blätter gesammelt, dann Steine, deren besondere Äderung ihn faszinierte. „Du verkriechst dich und verträumst dein Leben“, monierte der Vater. Um es ihm recht zu tun wollte sich Wilson Bentley mehr Mühe geben mit den praktischen Dingen, doch immer wieder wurde er durch eine neue Entdeckung abgelenkt. Schließlich ist es der Zauber einer Schneeflocke, der sein Leben verändert.
Wilson Bentley (1865-1931), von dem Robert Schneider im Buch „Der Schneeflockensammler“ erzählt, gab es wirklich. Mehr als 5000 Schneekristalle hat er fotografiert und festgestellt, das jedes einmalig ist. Weil er sich für etwas begeistern konnte, das anderen verborgen blieb, hinterließ er eine bleibende Spur. „Er ist anders“, so hatte ihn die Mutter in Schutz genommen. Und wenn er nicht berühmt geworden wäre?
Ja, wahrscheinlich hat das Erwachen von Phantasie und Schöpferkraft auch mit Momenten der Entrückung zu tun. „Der Garten grenzte an die Hauptstraße, die so schnurgrade in den Horizont hinauslief, als führte sie direkt ans Ende der Welt.“ Wie Robert Schneider den Ort beschreibt, wo Wilson Bentley aufgewachsen ist, spürt man Seelenverwandtschaft. Und das ebenso bei Linda Wolfsgruber, die der Geschichte ihre zarten Bilder gab.
Du bist nicht allein, wenn du in dich versunken bist, um Geheimnisse in dir zu ergründen und vielleicht auch dort, wo die schnurgerade Straße aufhört. Das will dieses wunderbare Buch Kindern sagen.
Irmtraud Gutschke
Robert Schneider: Der Schneeflockensammler. Mit Bildern von Linda Wolfsgruber. Jungbrunnen Verlag, 32 S., geb., 16 €.