Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Rébecca Dautremer: Punkt 12

Im Sog der Sehnsucht

Eine Liebesgeschichte in über 100 ausgestanzten Seiten

Das Buch sei gedacht für Kinder von sechs Jahren an, so heißt es. Da kann man nur hoffen, dass sie vorsichtige Hände haben, denn die Seiten sind fragil. Mit vielen winzigen ausgestanzten Details legen sie sich scherenschnittartig eine über die andere, sodass perspektivische Bilder entstehen. Ein Kunstwerk aus Papier, wie es viele wohl noch nie gesehen haben. Dabei hätte man das kleine Kaninchen Jacominus Gainsborough schon von früher kennen können. Überhaupt ist es nicht das erste Buch der französischen Illustratorin Rébecca Dautremier auf dem deutschen Markt. Doch dabei ist es ganz besonders. „Es ist nicht alltäglich, nicht wahr?“, schreibt die Künstlerin. „Tatsächlich wirst du dieses Buch, das du mit hochgezogenen Brauen und angehaltenem Atem betrachtest, gleich DURCHDRINGEN.“ Im wahrsten Sinne des Wortes, weil die über 100 ausgestanzten Seiten Durchblicke erlauben und gleichsam Räume schaffen, in die man sich bei Bedarf auch flüchten kann. „Und glaub mir, es ist ein verdammtes Glück, wenn man einen Raum hat, in den man sich bei Bedarf  flüchten kann.“

Also glaube ich, dass diese kostbare Papierskulptur eigentlich doch eher ein Geschenk für kunstsinnige Erwachsene ist. Vielleicht gar als heimliche Liebeserklärung, weil es genau darum geht, ob Jacominus und seine süße Hasendame sich am Ende umarmen. Punkt zwölf legt sein Schiff im Hafen ab, da wollen sie einander noch einmal sehen. Und wir tauchen schon am Morgen ein in Jacominus‘  sehnsuchtsvollen Gedanken, seine Vorstellungen, wie sie wohl den Weg zu ihm findet. Nicht einfach ist das, denn es ist ja ein dickes Buch. Jeden Schritt von ihr versucht er vorauszudenken, sie zu begleiten. Und er lächelt ihr zu im Geiste, ermutigt sie, damit sie auch rechtzeitig kommt.

So fiebern wir mit den beiden. Warum lässt sie sich ablenken von so vielen anderen Dingen, wenn es doch um das Wichtigste geht? Minute für Minute geschieht etwas Unvorhergesehenes. Vielleicht ist es für einige Zeit der spannendste Tag in Sweetys Leben. Denn danach wird sie es sein, die  mit dem Warten an der Reihe ist.

Irmtraud Gutschke

Rébecca Dautremer: Punkt 12. zwölf. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Insel Verlag, 212 S., geb., 48 €.

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