Zwei Schüchterne und eine Perle
Oliver Schlick hat mit „Rory Shy“ einen großartigen Krimi geschrieben
Die Geschichte beginnt am 27. Dezember vor dem Fernsehapparat, als Matilda Bond sich zusammen mit Frau Zeigler, „Expertin für Bodenreinigung“, die Serie „Mörderische Ehefrauen“ ansieht. Und sie endet am Silvesterabend, als die Zwölfjährige – ihre Eltern sind als Tierfilmer irgendwo in der Welt – hinter einem Altkleider-Container versteckt, die Tür des „Cafés Puderzucker“ beobachtet und hofft, dass ihr „Liebesverschwörungs-Plan“ aufgeht. Dazwischen: über 300 Seiten, die man nicht überblättert, um schnell zur Auflösung des Kriminalfalls zu kommen, weil der Weg hier ebenso schön ist wie das Ziel.
An einer Stelle des Romans bekennt Matilda Bond, dass sie die guten alten englischen Krimis liebt. Oliver Schlick tut das offensichtlich auch, indem er um eine gestohlene Perle spannende Ermittlungen aufbaut, im Haus einer Milliardenerbin mehrere Verdächtige zusammenbringt, dazu einen bullig-entschlossenen Polizisten, der droht, ebenjene Charlotte Sprudel wegen Versicherungsbetrugs zu verhaften. Das wäre auch geschehen, wenn Matilda am Abend des 27. Dezember nicht mit dem Cockerspaniel Dr. Herkenrath „Gassi“ gegangen wäre und eine schlanke Gestalt in äußerst merkwürdiger Haltung entdeckt hätte. Der Mann, gebeugt über einen SUV, ist Gott sei Dank nicht tot. Aber seine Zunge ist an der Kühlerhaube festgefroren.
Wenn er auch sonst dessem Krimimuster folgt, Oliver Schlick hat Arthur Conan Doyle eine Verschmitztheit voraus, die man sich nicht erwerben kann, die einem in er Seele liegen muss. Später wird Matilda erfahren, warum Rory Shy den SUV ablecken wollte. Aber erst einmal ist sie überglücklich, den berühmten Detektiv vor sich zu haben, für den sie schon lange schwärmte. Zum Dank für ihre Hilfe darf sie sich etwas wünschen. Da will sie, wenigstens für einige Tage, seine Assistentin sein.
Detektive sind gewöhnlich Draufgänger. Meist sieht man sie mit vorgehaltener Pistole oder gezücktem Messer. Sie werden zu Boden geprügelt und tun ebendas mit ihren Verdächtigen. Wir sollen in ihnen eine Durchsetzungskraft bewundern, die uns im Alltag fehlt. Da hat Oliver Schlick mit einem dermaßen schüchternen Detektiv einen großartigen Einfall gehabt zum Trost auch all jener, die ebenso mit dieser lauten Welt nicht zurechtkommen. Rory Shy, so erfolgreich er ist, bringt aus lauter Verlegenheit kaum einen ordentlichen Satz zustande, hat es deshalb sogar schwer, Verdächtige auch nur höflich zu befragen. Da ist Matilda Bond aus anderem Holz geschnitzt. In unerschrockener Tatkraft mit ihrem Namensvetter James verbunden, bezaubert sie zugleich durch Freundlichkeit und intuitive Menschenkenntnis. So lebt das Buch nicht zuletzt auch von der Einfühlsamkeit der Ich-Erzählerin, von ihrer Neugier, die immer auch Hilfe verspricht. Und Dr. Herkenrath spielt auch eine Rolle.
Gebaut nach dem Muster eines klassischen „Whodunnit“, hält der Roman immer wieder neue überraschende Wendungen parat. Und als die Perle in einem Schälchen mit Schokolinsen gefunden wird, ist der Roman noch längst nicht zu Ende. Wie so oft führen die Fragen nach dem Wie und Warum in die Vergangenheit. Was die Zukunft betrifft, so können wir hoffen. Verlegen wie immer, bedankt sich Rory Shy bei Matilda, so dass sie seinen Wunsch nach weiterer Zusammenarbeit errät. Da kündigt sich also eine Romanserie an, die für Zwölfjährige ebenso wie für viel Ältere gut ist . Mag zwischen Rory Shy und Charlotte Sprudel ruhig noch etwas im Schweben bleiben, auch wenn sie zögerlich ihre Hand auf die seine legt. (Wunderbar wenn auch Millionenerbinnen so mitfühlend und schüchtern sind.) Im Ueberreuter Verlag jedenfalls kann man froh sein, dass man diesen Autor hat.
Oliver Schlick: Rory Shy. Der schüchterne Detektiv. Ueberreuter Verlag. 311 S., geb., 14,95 €.