Riesen, Zwerge, Trolle, Elfen
Irmtraud Gutschke
Zu diesem Band habe ich gegriffen, weil ich bei mir eine Wissenslücke sah. Die griechische Götterwelt kenne ich seit meiner Kindheit. Von den Wikingern weiß ich, dass sie Seefahrer, besser Seeräuber, waren, beheimatet in Skandinavien. Krieger und Abenteurer also, Nordländer. Wobei mir die nordischen Mythen nicht so nahe waren, weil ich sie doch irgendwie mit dem Germanenkult der Nazis verband. Was so einfach eben doch nicht stimmt. Es handelt sich dabei um Sagen aus vorchristlicher Zeit, die, wie ich aus dem Buch erfahre, im 13. Jahrhundert aufgeschrieben wurden – mit Gottheiten, Riesen, Zwergen, Trollen und Elfen und den Nornen, drei weisen Frauen, die sich um die mächtige Eiche Yggdrassil kümmern. Jeden Tag mischen sie Schlamm mit Wasser aus dem Urdbrunnen und bestreichen den Baum damit, um ihn zu heilen.
Die Welt muss also ständig geheilt werden, denn Yggdrasil ist ja sozusagen die Welt. In der Krone befindet sich Asgard, der Sitz der Asengötter, darunter Vanaheim, die Heimat der Wanengötter. In der Mitte des Baumes breitet sich Midgard aus, die Welt der Menschen umkreist von Jörmungand, der Weltenschlange, und durch die Regenbogenbrücke Bifröst mit Asgard verbunden. Und dann gibt es noch die Licht- und die Schwarzalben, Riesen und Zwerge in ihren eigenen Reichen, einen gemeinen Drachen und ein emsiges Eichhörnchen, eine dunkle Welt aus Schnee und Eis und ein Reich aus Feuer und Rauch.
Das wird manche schon aus der Fantasyliteratur und aus Filmen bekannt vorkommen. So dürfte es Teenagern gar nicht so fremd erscheinen. Auch John Ronald Reuel Tolkien ließ sich davon inspirieren. Sein Roman „Der Herr der Ringe“ ist eines der erfolgreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Oder Walt Disneys Film „Frozen“, der nun schon jahrelang kleine Mädchen begeistert: Vordergründig lässt er an Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ denken, hat aber durchaus Bezüge zur skandinavischen Sagenwelt. Davon bietet Matt Ralphs nun keine Adaption, sondern versucht, die einzelnen Geschichten so authentisch wie nachvollziehbar zu erzählen: Wie aus Eis und Nebelschwaden der Riese Ymir das Volk der Reifriesen hervorbrachte, aber vorher stärkte ihn eine riesige Kuh namens Audumla mit ihrer Milch. Wie seine Nachkommen ihn töteten und aus seinem riesigen Körper eine neue Welt schufen. Wie Gott Odin Sonne und Mond an den Himmel setzte, das erste Menschenpaar ins Leben brachte. Wie die Asen- und Wanengötter miteinander stritten, was es mit dem zauberkräftigen Skaldenmet auf sich hat und dem wunderbaren Pferd Svadilfari. Das Geheimnis der Runen, der Schelmengott Loki, der Hammer des Donnergotts Thor, die kluge Freyja, deren Wagen von zwei Katzen gezogen wurde, Skadi, die Riesin auf Skiern …
Das Buch ist eine Fundgrube für phantasiebegabte Kinder eigentlich jeden Alters. Und auch Erwachsene werden die Lektüre genießen. Was für eine riesige, vielgestaltige phantastische Welt tut sich da auf! Spannende Geschichten voller seltsamer Wesen. Man ist voller Bewunderung für die Menschen aus fernen Zeiten, die all das ersonnen, über Generationen weitergegeben und die Überlieferungen später festgehalten haben. Der Reiz besteht auch darin, dass es kein festgefügtes Glaubenssystem war, keine verbindliche Religion, sondern ein poetisches Weltbild, das Christen dann heidnisch nannten. Mit den einprägsamen Texten von Matt Ralphs und den großartigen Illustrationen von Katie Ponder in ihrem ganz eigenen Stil ist ein erstaunlich schönes Buch entstanden, etwas Wertvolles, das man auf immer bei sich haben möchte.
Matt Ralphs: Nordische Mythen. Illustrationen Katie Ponder. Verlag Dorling Kindersley, 164 S., geb., 19,95 €.