Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Louisa Söllner: Die wundersamen Talente der Kalendario-Geschwister

Als Maubach noch magisch war

Irmtraud Gutschke

Geheimnisse und Zauberei – Mythen, Sagen, Märchen leben seit jeher davon. Die Literatur der Romantik spielte mit dem Mysteriösen ihnen. Und mindestens seit „Harry Potter“ verknüpft sich damit auch ein Erfolgsrezept der Gegenwartsliteratur. Die muss sich in erster Linie zu vermarkten sein, Und es ist nun einmal so: Erwartungen bestimmen das Kaufverhalten. Diese Erwartungen sind bereits mit dem Cover zu bedienen, umso wirksamer, wenn das Buch nicht nur für einen selbst erworben wird. „Eine zauberhafte Geschichte voller Witz, Überraschungen und kurioser Talente.“ Also genau richtig für Kinder ab zehn, die Rätselhaftes mögen.

Es ist wie mit ungarischer Salami: Man kauft sie, wenn man den Geschmack schon auf der Zunge spürt. Das klingt jetzt so, als wollte ich eine Distanz betonen. Aber im Gegenteil will ich betonen, wie glücklich ich überrascht worden bin. Perfekt schon das liebevoll bedruckte Vorsatzpapier mit Nachrichten aus dem „Maubacher Tageblatt“: Im Zoo hat sich ein Elefant in Luft aufgelöst, Katzen werden vermisst, und ein Mittel gegen Schluckauf hielt nicht, was es versprach. „Lady Kanario und der große Kalendario im Doppelpack“ – die beiden werden wir noch kennenlernen, erst ihn dann sie, als ein Kanarienvogel durchs Fenster fliegt.

Aber ich will jetzt nicht zu viel verraten. „Pablo und Penny wussten, dass das leerstehende Nachbarhaus tabu war.“ So beginnt die Geschichte. Ein Gruselhaus. Natürlich schleicht sich Pablo da hinein. Als selbsternannter Detektiv für Magisches hatte er bislang in Maubach nichts Aufregendes entdeckt. Früher sei das anders gewesen, wie Oma Ilse ihm erzählte: „Briefe teilten sich dort von selbst und flogen morgens durch die Straßen wie Vögel. Die Erdbeertorten, die Ilses Vater buk, schmeckten so himmlisch, dass alle, die davon kosteten, kurz abhoben. Und im Brunnen vor dem Marktplatz schwamm an manchen Tagen ein Nashorn, das dann auf rätselhafte Weise wieder verschwand…“

Quelle aller Magie soll ein Herr Knopfloch gewesen sein, der in jener Villa nebenan ein Mittel gegen Schluckauf erfunden hatte, dann aber auf rätselhafte Weise verschwand. Das war vor 25 Jahren. Was genau mag damals geschehen sein? Die Frage treibt Pablo um, was seine eher nüchtern denkende Schwester Penny erst einmal nicht versteht. Aber im Laufe des Buches wird sie anderen Sinnes werden. Denn eine besondere Erfahrung wird ihr zuteil. Schlimm aber ist es, wenn man ein Glück wieder verliert…

Aber ich greife vor. Die Ereignisse überschlagen sich, als ins Nachbarhaus der unheimliche Herr Kalendario mit seinen fünf Kindern einzieht, von denen jedes, gelinde gesagt, seltsam ist. Genauer gesagt, nur vier sind magisch begabt. Febru, ein Mädchen in Pablos Alter, ist so „normal“, dass sie traurig ist. Aber das soll sich ändern. Pablo und Penny freunden sich mit frn Nachbarskindern an. Sie gehen ja auch gemeinsam zur Schule. Die ist plötzlich von einem seltsamen Schleim bedeckt. Und noch seltsamer: Der eigentlich strenge Hausmeister ist fröhlich und entspannt. Pennys Hund, Pieksieben, beginnt zu sprechen und reagiert allergisch auf das älteste der Mädchen, das sich in eine Katze verwandeln kann.

Jux und Zauberei also. Ein Kunststück, wie die Autorin an Pablos Seite auch den verschwundenen Herrn Knopfloch nicht aus den Augen verliert. Was ist ihm damals wohl geschehen? Oma Ilse könnte etwas wissen, doch ist sie dabei, ihre Erinnerungen zu vergessen. Was Pablos zwei Mütter traurig macht, aber ich hoffte beim Lesen, dass sich für sie ein Mittel gegen Alzheimer finden würde.

Denn es ist ja nicht nur eine Zaubergeschichte, in der Rätsel aufzuklären sind. Unterschwellig erzählt uns die Autorin von der Verwicklung menschlicher Gefühle: Staunen, Konkurrenz, Neid, Verliebtheit, Eifersucht, Ehrgeiz, Glück und Frust, Kummer und Ängste. Eine Menge Lebensweisheit steckt in diesem Buch. Denn die angeblich goldenen Zeiten, „als Maubach noch magisch war“, hatten auch ihre Tücken.

Die Autorin, 1982 geboren, hat in Amerikanischer Literaturgeschichte promoviert. Dies ist ihr erstes Kinderbuch. Mögen noch weitere folgen.

Louisa Söllner: Die wundersamen Talente der Kalendario-Geschwister. Ueberreuter, 252 S., geb., 16 €.

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