Ist es eine Linie oder ein Kreis
Irmtraud Gutschke
Eine grundlegende Kategorie der Physik: Wir messen sie, teilen sie in Jahre und Monate, Tage, Stunden, Minuten Sekunden. Wir klagen, wie sie vergeht, so wie es überhaupt im Laufe des Lebens immer schwerer fällt, Gedanken an die Vergänglichkeit loszulassen. Aber die ist ein Buch für Kinder ab drei, die es von Erwachsenen vorgelesen bekommen. Das hat die Kanadierin Julie Morstad auch eingeplant. In Wort und Bild – mit leichter Hand – sät sie Nachdenklichkeit. Das beginnt schon beim Titel: Zeit soll eine Blume sein? Ja doch: Sie entsteht aus einem Samenkorn, entfaltet ihre Blütenblätter, um eines Tages zu verwelken. Oder ein Baum? Nur wird der meist viel älter als wir Menschen. Ein Kiesel, der einst ein Berg, ein Schmetterling, der eine Raupe war? Der „einen Nacht“ und gleichzeitig „der anderen Tag“? Da ist Kindern vieles zu erklären. Dass die Zeit auch ein Sonnenstrahl sein kann, weiß die Katze womöglich besser als wir. Zeit anhalten in Fotos? Ja sicher, und doch sehen wir heute anders aus als einst. Woran liegt es, dass sie mal rast und mal schleicht? Das Buch ist nicht nur physikalisch, sondern auch philosophisch anspruchsvoll. Erwachsene werden ebenso ins Nachdenken geraten wie Kinder? Können Dreijährige es verstehen? Einen Versuch wäre es wert. Wenn sie kein Interesse zeigen, mag das Buch noch ein paar Monate warten. Wenn doch, haben sie einen großen Schritt nach vorn gemacht, um diese Welt zu verstehen.
Dass die Zeit linear in eine Richtung läuft, sagt uns die Physik. Aber wie ist das nun mit der Blume? Aus einem Samenkorn entstanden, bildet sie im Vergehen doch wieder Samen. Ist sie wirklich eine Linie oder doch ein Kreis (wie man übrigens in andere Kulturen meint)? Mit dieser Frage endet das Buch, denn „e ist Zeit zum Abendessen“.
Julie Morstad: Zeit ist eine Blume. Aus dem kanadischen Englisch von Kathrin Bögelsack. Bohem Press, 56 S., geb., 24 €.