Der Riese und die Kinder
Von Irmtraud Gutschke
Es sollen interessante, spannende Geschichten sein mit „Abenteuern, unvergesslichen Helden, Gefühlen und Zauberei“. Dass sie gleichzeitig vor dem Einschlafen „beruhigen und entspannen“ sollen, ist leichter versprochen als getan. Denn in den alten Märchen haben unsere Vorfahren ihre Beschwernisse, ihre Sorgen, ihre Ängste versammelt. Kinder wuchsen damals ganz anderes auf – mit schier unüberbrückbaren Standesunterschieden und nicht selten auch mit ganz direkter existenzieller Not. All das haben wir in die Ferne verbannt. Die Grausamkeiten vor ihrer Tür geschehen jetzt irgendwo anders, nur über das Fernsehen können sie uns erschrecken.
Es ist wohl ein Kunststück gewesen, die alten Märchen so zu erzählen, dass Kinder danach nicht schlecht träumen. In diesem Buch ist es gelungen. Die stolze Prinzessin bekommt im „Froschkönig“ einen Prinzen, weil ihr Vater sie freundlich ermahnt, dass man ein Versprechen halten muss. Dass hässliche Entlein wird zum wunderschönen Schwan, und Dornröschen wird wachgeküsst nach 100-jährigem Schlaf. Alles endet zu größter Zufriedenheit, nicht selten mit einer Heirat, durch die ein armes Mädchen oder ein armer Junge zugleich das Glück haben, auch noch ein Schloss geschenkt zu bekommen. Manchmal braucht es dafür „nur“ ein starkes, treues Herz, oft aber auch einen scharfen Verstand. Kinder werden erleben, dass es eine gute List gibt wie in „Der gestiefelte Kater“, aber auch eine böse wie in „Der Hahn und der Fuchs“, wo letzterer hinter seiner Schwafelei von allgemeiner Liebe nur seine Fresslust versteckt. Ein Glück, dass der Hahn das durchschaut. Auch wer klein ist, kann klug sein, und wer Mitgefühl hat mit Schwächeren wird am Ende belohnt. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt am Ende selbst hinein, und seine Wünsche soll man sich gut überlegen.
70 Geschichten, wunderschön farbkräftig illustriert von Anna Láng: Berühmte europäische Märchen finden sich hier ebenso wie solche aus fernen Ländern. Da wäre zum Interesse der Eltern und Großeltern ein Quellenverzeichnis nicht schlecht gewesen, Schöne Vorlesegeschichten sind es allesamt. Geeignet für Kinder ab 4, wobei Erwachsene am besten wissen, was ihren Kleinen gut tut. Einige Geschichten wie „Der Hase und der Igel“, „Die eingebildete Giraffe“ oder „Der Winter und der Frühling“ sind auch schon für Dreijährige gut. Besonders gefiel mir in diesem Zusammenhang „Der egoistische Riese“, der seinen Garten mit einer hohen Mauer umgab, weil er sich vom Spiel der Kinder gestört fühlte. Das Ergebnis war, dass dort der Schnee nicht taute. Und als er die Kinder zurückkehren ließ, blühten die Blumen und sangen die Vögel wieder.
Fünf-Minuten-Gutenachtgeschichten. Illustrationen von Anna Láng. Übersetzung Annette Ostlaender. Verlag White Star Kids, 176 S., geb., 16,95 €.