Der Junge im rosa Nachthemd
Frauke Angel und Julia Dürr im Dschungel der Geschlechter
Mädchen in Hosen? Klar. Und Jungs in Röcken? Wer weiß schon noch, dass ihnen bis ins 19. Jahrhundert hinein, so lange sie noch klein waren, kleidähnliche Kittel angezogen wurden. Weil es praktischer war? Oder weil die „Jungserziehung“ erst nach dem Kleinkindalter begann? Heute sind die Internetforen voller Fragen besorgter Eltern, den Geschmack ihrer Söhne betreffend. Ein Vierjähriger will nur Mädchenkleidung tragen, ein Sechsjähriger wünscht einen rosa Ranzen. Wird er in der Schule nicht gehänselt werden?
Da scheint das Bilderbuch „Disco“ von Frauke Angel und Julia Dürr sogar schon etwas für ratsuchende Erwachsene zu sein. Der kleine Ich-Erzähler hat nämlich kein Problem damit, Pink und Rot zu lieben. Nur die Mama sagt, sie würde bald augenkrank oder bekäme „sicher gleich einen sehr schönen Herzinfarkt“. Der Vater entzweit sich mit seinem Freund: „Was soll das heißen, wir sind schuld, wenn unser Junge schwul wird?… Deshalb frage ich Pina, ob sie weiß, was schwul bedeutet.“ Der darauf folgende Dialog ist voller Witz und die Bilder von Julia Dürr dazu atmen eine Freiheit, die auch auf den anderen Seiten richtig gute Laune macht.
Lass den Kindern ihren Spaß. Wenn der Junge im rosa Nachthemd zur Disco im Kindergarten will, soll er. Als sich die Erzieherin, Frau Zwinger, damit abgefunden hat, geht es ihr gleich selber besser, und die ganze Gruppe ist von ihr begeistert. Auch bei anderen Erwachsenen scheinen sich Fesseln zu lösen. Frauke Angel hat das lakonisch einprägsam und durchaus mit Hintersinn erzählt. Woher die Ängste kommen, wie Konventionen entstanden sind und welche Geltung sie noch haben können – über all das wird man nachdenken, wenn man zum Beispiel die grün-blauen Socken des Vaters unter seinem Anzug hervorblitzen sieht.
Ja, woran liegt es denn nun, dass kleine Jungs von Mädchensachen begeistert sind? Vielleicht an den Müttern, die so liebevoll die Kleidung ihrer Töchter aussuchen, dass es dann allenthalben heißt: „Ach, wie süß“? .Bekommen kleine Mädchen vielleicht mehr Komplimente? Ist es inzwischen schon so weit, dass sie von Geschlechterrollen weniger eingeschränkt sind als Jungen? Was hat sich verändert im öffentlichen Klima? Entsteht eine andere Art von Konkurrenz? Schwindet das Ansehen von Männlichkeit? Was ist das überhaupt? „Wann ist ein Mann ein Mann“, sang Herbert Grönemeyer. „Außen hart und innen ganz weich.“ Oder weich inzwischen auch außen? In dem wirklich schönen Buch „Disco“ geht Papa jeden Tag im grauen Anzug ins Büro. Und die Mama, ist sie Hausfrau? Man kann darüber nachdenken, was „Gender“ alles verdeckt und kaschiert. Man kann? „Frau“ hätte ich schreiben sollen, denn dieser Art Denken wird von unsereinem vorangetrieben. Geschlechterkampf? Was steckt dahinter? Und was ist der Preis?
Wenn Vier- bis Sechsjährige dieses Buch vorgelesen bekommen, werden sie Spaß haben und sich über sowas nicht den Kopf zerbrechen, denn auch die Kinder in Text und Bild haben mit all dem keine Probleme. Sie dürfen es „bunt treiben“ und sind frei von all den Einschränkungen, die sie später noch kennenlernen werden. Die Lieblingsfarben des kleinen Jungen kommen einfach von seiner neuen Freundin. Weil Pina das schönste Mädchen in seinem Kindergarten ist, mag er Rot und Pink am liebsten. Pina ist „die Schlauste. Und am schönsten bin ich.“
Irmtraud Gutschke
Frauke Angel: Disco! Mit Bildern von Julia Dürr. Jungbrunnen Verlag, 32 S., geb., 15 €