Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Das Gespenst von Canterville

Wie klingt ein Mondstrahl?

„Das Gespenst von Canterville“ von Oscar Wilde, grandios nacherzählt und inszeniert

Irmtraud Gutschke

Am besten gefiel mir damals, wie die Zwillinge der Familie Otis sich nicht etwa vor dem Gespenst  fürchteten, sondern es mit Kissen bewarfen, und wie ihre ältere Schwester Virginia Mitleid mit dem einsamen Poltergeist hatte, der so traurig war und keine Ruhe fand. Wie mutig sie war. Sie ging mit dem Gespenst sogar durch eine Wand und ließ sich nicht beirren, dass die gewebten Jäger auf den Wandteppichen sie warnen wollten. – Ja, wir alle waren fasziniert, als Frau König in den Stunden vor den Ferien unserer dritten Klasse die berühmte Erzählung von Oscar Wilde vorlas.

Das neue Buch nun aus der Reihe „Weltliteratur mit Musik“ aus dem Annette Betz Verlag ist sogar schon für Kinder ab fünf gedacht, wobei  deren Eltern und Großeltern garantiert auch Freude daran haben werden. Schon auf den ersten Blich, denn die Illustrationen von Sonja Wimmer sind hinreißend. Da sieht man die Familie des amerikanischen Gesandten Mr. Otis das ehrwürdige englische Schloss in Besitz nehmen, etwas respektlos wie Oscar Wilde wohl fand. Dem Blutfleck auf dem Teppich vor dem Kamin – an dieser Stelle hat Sir Simon de Canterville seine Gattin Eleanor ermordet – rückt Washington, der älteste Sohn, lachend mit „Pinkertons Universalreiniger“ zu Leibe. Wie die Familie dann die Treppe hinaufsteigt, und ein Diener trägt die ganzen Koffer hinterher, ist herrlich ironisch: Die selbstbewussten Yankees waren wohl doch nicht so demokratisch gesinnt, wie sie es von sich glaubten. Wie sie in ihrem rigorosen Materialismus alles Übernatürliche von sich weisen, konnte Wilde, als er 1887 diese Geschichte schrieb, als Zeichen des Fortschritts erscheinen, aber so satirisch überzogen wie er es uns vor Augen führt, spürt man ein Widerstreben seines poetischen Gemüts.

Und die Geschichte endet ja dann auch ganz romantisch: Virginia, eben noch vom Gespenst als „Kind“ bezeichnet, über das „die Finsternis keine Macht“ hat, heiratet bald schon einen Herzog und bringt mit den Juwelen der Cantervilles Reichtum in die Ehe ein. Wie sich die Illustratorin daran erfreut und wie eingängig sich der von Henrik Albrecht bearbeitete Text liest! Aber es ist ja noch ein zusätzliches Geschenk versprochen: eine CD, die mehr als eine Lesung bietet. Eine eigenständige Inszenierung von 58 Minuten erwartet uns da, ein Hörspiel mit verschiedenen Personen. Was für eine gute Idee: Virginia blickt auf das Geschehen von damals zurück, das mit eigens dafür komponierter Orchestermusik unterlegt ist. Henrik Albrecht ist da ein Kunststück gelungen. Musik und Instrumente zu den einzelnen Szenen werden im Text – kursiv gedruckt –  sogar erklärt. Wie klingt Regen, wie ein Mondstrahl? Wie entsteht ein „silbriger Ton, der wie aus dem Nichts zu kommen scheint“? Und wie bringt man gar einen Blutfleck zum Klingen?

Nicht nur zu einer Deutschstunde passt diese Geschichte, sondern mit dieser CD auch zum Fach Musik.

Oscar Wilde: Das Gespenst von Canterville. Musik und Nacherzählung von Henrik Albrecht. Illustrationen von Sonja Wimmer. Annette Betz Verlag, 32 S., geb., 25 €.

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