Albert Wendt: Eine Trostgeschichte
Tapferzart
Von Irmtraud Gutschke
Sie war dünn, zart und wunderschön – so sieht der Schriftsteller Albert Wendt seine Tine Pelerine. Die Kinder in seinen Geschichten haben ja immer etwas Anziehendes, auch die Nicht-Engelgleichen, die Dicken, die Lustig-Robusten. Aber von Tine Pelerine denkt man erst einmal, dass selbst ein kleines Unglück sie von den Beinen reißt. Wovon das Buch handelt, das ist allerdings kein kleines, sondern ein großes. Wie fühlt sich ein Kind, wenn die Mutter es zurücklässt bis zu unbestimmter Rückkehr?
Die Mutter wird wiederkommen, so viel sei verraten. Aber erst einmal steht die kleine Tine auf dem Bahnsteig und weint. Im Dunkeln und im Regen, allein, denn beim Onkel kann und will sie nicht bleiben. Und es erscheint da nicht etwa eine freundliche Schwester von der Bahnhofsmission, sondern zuerst ein größenwahnsinniger Mops und dann ein kleiner Mann mit großem Regenhut. Darunter hat er eine Krone. Wie schön, wir sind also im Märchen. Der Regenkönig Tausendwasser kommt, weil das Mädchen weint, und er hilft, weil sie ihn so liebevoll anlächelt. Er will ihr beistehen, damit die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter schneller vergeht, aber dafür … „Du wirst wohl ein bisschen was aushalten müssen“, sagt er.
Was aushalten müssen – und können, Geduld beweisen. Nehmen wir uns ein Beispiel an Tine Pelerine, der die Mutter eine besondere Eigenschaft bescheinigte: „Tapferzart“ sei sie. So viel wie die ersten Blüten im März, sagt das Kind, könne es aushalten. Resilenz heißt das in der Psychologensprache, ein modisches Wort inzwischen. Aber hier haben wir es mit einem Kinderbuch zu tun, das wir Erwachsene uns in Gleichnishafte übersetzen können. Aber erst einmal sollten wir es, so wie es ist, genießen.
„Das tanzende Häuschen“ ist ein kleines Hotel direkt neben den Gleisen. „Hotel zum dicken Fell“ heißt es, weil alles dort ins Hüpfen kommt, wenn ein Zug vorbeirattert. Nun, ein dickes Fell hat Tine, wir wissen es, gerade nicht. Aber sie kann sich halten in der Bleibe, die der Regenkönig ihr zugewiesen hat. Und nicht nur schlafen irgendwann, sie überlegt auch, wie sie den Tieren, die dort wohnen, helfen kann. So wirkt also der Zauber, die Zeit des Wartens zu verkürzen.
Erste Lehre aus diesem Buch: irgendwann mit dem Weinen aufhören, sich nicht ins Warten vergraben. Zweite Lehre: liebevoll zu lächeln versuchen, auch wenn es einem schwer ums Herz ist. Dritte Lehre: Darin nicht nachlassen, ja sogar das eigene Warten vorerst verdrängen, sondern schauen, wo Gutes zu tun ist. Vertrauen, das auch, aber sich auch daran nicht festbeißen. Nicht erstarren, sondern beweglich bleiben.
Da hat ein Kinderbuch ziemlich viel Kluges zu bieten, und heiter zu lesen ist es obendrein. Allein schon dieser Mops, der gern ein Wolf sein möchte, oder der Bär Brim-Brim, der seine Schüchternheit überwinden muss, oder die Pudeldame, die alle „Schlimme Hedwig“ nennen, oder der Regenkönig, der immer mal wieder lieb angelächelt werden will, oder das Schaf Gartenmö, das den Zug für einen gefährlichen Drachen hält, oder… Genau genommen hat es die Tine mit ziemlich vielen Verrückten zu tun – und nimmt sie, wie sie sind, hilft ihnen, wenn es geht, wehrt sich gegen Zudringlichkeiten, vergisst mal ihren eignen Kummer.
Albert Wendt: Das tanzende Häuschen. Verlag Jungbrunnen. 93 S., geb., 14 €.