Farben der Verheißung
Ein ganz besonderer Kalender, den es nicht im Buchhandel gibt
Schon der Titel ist so, dass ich nicht widerstehen kann: „in der ferne — blau“. Da sehe ich einen grauen Himmel vor mir, der sich plötzlich dem Licht öffnet – und damit dem „Herrn des blauen Himmels“, zu dem die alten Nomadenvölker ihre Gebete aussenden. Oder ich sehe einen Wald in geheimnisvollem Nebel, der in ein Blau übergeht, die Farbe der Verheißung. Also gefallen mir, obwohl ich im April geboren wurde, die Kalenderblätter für „Winter“ und November mit ihren vielen Schattierungen von Blau besonders gut.
Und ich staune über das dem Juni gewidmete Blatt: Auf einem Fußboden aus Keramik, Marmor oder Steinen liegt eine (orientalische?) Bordüre. Darauf steht eine blau lasierte Schale, deren Anblick umso mehr trifft, weil ihr ein Stück fehlt. Eine Öffnung ist entstanden, die den Blick auf das darunter liegende Muster frei gibt. Das heißt: Wir schauen durch die Dinge hindurch. Die Gegenwart ist brüchig und sowieso nicht ganz Gegenwart, weil alles, was vergangen ist, dazugehört. Ein rostiges Stück Eisen, ein kleines Zahnrad, eine Fliege, die irgendwer einmal zum Smoking getragen hat und darüber ein Sägeblatt — zufällig sind diese Dinge keineswegs aufs Bild geraten. Sie sind eine Metapher für das Bleibende wie auch für das Vergängliche.
Als Motto für seinen Kalender hat sich der Fotograf Michael Lange von Rainer Maria Rilke inspirieren lassen – von dem berühmten Gedicht „Blaue Hortensie“, in dem das Blau geradezu rührend in einer der blassgrünen Dolden aufscheint, die vorher „verwaschen“ schienen „wie an einer Kinderschürze“. Darauf reimt sich „eines kleinen Lebens Kürze“, aber das Blau widerspricht. Und ist dann auf dem Kalenderblatt zum Sommer umgeben von einem leuchtend lebensstarken Rot.
In einer Art Vorwort beschreibt die Kunsthistorikerin Dr. Teresa Ende den Schaffensprozess des Künstlers: „Aus alten Büchern, Papieren, Tapeten, Tier- und Pflanzenteilen, Metallstücken, aufgequollenen Bauplänen, Manuskripten und Zeichnungen“, die er auf dem Boden seines Ateliers auslegt, entstehen flächige Kompositionen. „Im Unterschied zur ursprünglichen Collage-Kunst aber sind die Stillleben bei Michael Lange lediglich ein Zwischenschritt zum eigentlichen Bild“, das erst durch die „pointierte Beleuchtung“ entsteht. „Licht und Kamera ‚malen‘ aus dem Disparaten geschlossene Bildwelten, als seien es reduzierte Landschaften, Sedimente abstrakter Gemälde oder das geheime Innenleben der Bücher…“
Schauen, Staunen — ja, über etwas Geheimnisvolles, ein leises Innehalten angesichts einer konfliktzerrissenen, furchteinflößenden Gegenwart. Aber: In der Ferne ein Blau.
Gedruckt durch eine besondere Technik auf 250 Gramm schweres exquisites Papier, ist der großformatige Kalender ein Kunstwerk für sich. Nicht im Buchhandel und schon gar nicht bei Amazon zu haben, sondern eigentlich nur beim Künstler selbst zu kaufen. Wobei ein Blick in seine Werkstatt im sächsischen Kreischa wahrscheinlich allein schon ein Erlebnis ist. Auf seiner Webseite www.michael-lange.net ist der Kalender zu betrachten, und man erhält weitere Einblicke in seine Arbeit.
Michael Lange: In der Ferne blau. Kalender 2021. 60 x46 cm, 19 Blatt, 50 €. Bestellung (Versand 8 €) über kontakt@michael-lange.net