Der weite Blick
Von Irmtraud Gutschke
Wo gibt es ihn noch in der modernen Lyrik: diesen weiten Blick? Vom Weltall auf die Erde, von der Erde in den unendlichen Himmel – wer so schaut, für den könnten sich die Maßstäbe relativieren, könnte das Eigenen nichtig werden, weil in größere Zusammenhänge eingeordnet. Aber beides geschieht in den Gedichten von Wjatscheslaw Kuprijanow gerade nicht.
Dieser Dichter, 1939 in Nowosibirsk geboren und seit 1967 freischaffend in Moskau, zeigte früh schon eine Affiniät zur deutschen Lyrik, übersetzte Hölderlin, Chamisso, Novalis, R. M. Rilke, Hofmannsthal, Brecht, Arp, Fried, Grass, Jandl. Immer mal wieder lebt er auch in deutscher Umgebung. Dort hat er für seine Texte einen großartigen Übersetzer: Peter Steger. Da die Gedichten im Band auch die Originalfassung gibt, kann man Stegers Leistung ermessen. Da befinden sich Autor und Übersetzer wohl auf eienr Wellenlänge.
Kuprijanows Talent ist es, ein Ganzes zu erfassen, allerdings von seinem Ich aus, das nicht nur vom Momentanen, sondern zuzusagen von der ganzen Welt bewegt ist. Da gibt es vom Persönlichen einen Weg zum Menschheitlichen, der heutzutage wohl nicht allzu oft begangen wird. Individuelles ja, aber Individualismus nein. Oft findet sich ein Aufruf in den Texten, wird eine Besorgnis auf den Punkt gebracht. „Die Tiere singen:/ Wir ängstigen uns vor den Menschen, wir knurren/aus Furcht.“ Vielleicht sind wir ja wirklich „Lebensanfänger unter unserem Stern“, noch fern einem wirklichen „Menschenreich“.
„Je mehr Kleinigkeiten ist gibt/ desto stärker beeinflussen sie/ unsere Zeit.// Um ihnen Platz zu machen, /werfen wir aus dem Bewusstsein/ die Tugend,/ die hohen Ideale/ das Gewissen, /das Gemeinwohl ab.“ Viele Texte tendieren zum Lehrgedicht. Zum Beispiel „Hasen“: „Wollte man die Hasen bewaffnen, /damit sie die Wölfe ausrotteten,/ werden dann die Hasen/ nach der Ausrottung der Wölfe/ einander ausrotten?// Werden die Hasen/ jene ausrotten,/ die sie bewaffnet haben?// Wird es/ Hasen geben?“ Ein befremdeter Blick auf den modernen Menschen, der zu einem „Gefangenen des Fernsehaquariums“ wird. und der vergessen hat, was wirklich ein „Paradiesgarten“ wäre.
Wjatscheslaw Kuprijanow: Für den unbekannten Feigling. Gedichte und Prosa-Gedichte (Rus./Dt.) Aus dem Russischen von Peter Steger. Pop Verlag, 206 S., br., 19,50 €.
Nora Gaydukova 13. Januar 2022
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