Wenn die Blumen sprechen könnten
Die Gedichte von Sherko Bekas haben hierzulande nichts Ihresgleichen
Versuchen Sie, diesem Gedicht namens Sturmflut“ einmal nachzulauschen: „Die Flut sagte zum Fischer:/ Für das Toben meiner Wellen/ gibt es viele Gründe./ Der wichtigste davon ist,/ dass ich für die Freiheit der Fische/ und gegen das Netz bin.“ Die Meeresflut kann also sprechen, denken, sie hat Vorsätze und handelt entsprechend. Natürlich hat Sherko Bekas (1940 – 2013) das nicht wirklich angenommen. Auch nicht, dass eine Mohnblume einer Dornenblume die Hände küsst („Verbeugung“), dass Wolke und Garten gute Vorsätze haben („Das neue Jahr“), dass die Trauerweide ihr Haupt in den Schoß des Teiches legte, um eine Lerche zu retten („Pappel“). Aber der Dichter dachte in solchen bildhaften Vergleichen und wusste, dass sie denjenigen nahe rücken würden, für die seine Text gedacht waren.
Der Schriftsteller Bachtyar Ali, von dem im Unionsverlag schon mehrere Romane erschienen, sagt in seinem Vorwort, dass der von ihm bewunderte Sherko Bekas in sich keinen Frieden finden konnte, weil er in die Wirren hineingezogen wurde, in denen seine Landsleute lebten, die Kurden in Nordirak. „Er wurde in die Politik und den Lauf der Geschichte hineingezwungen und war zeit seines Lebens ein Teil davon.“ Einige Gedichte des Bandes besingen den Euphrat, denn Bekas war wegen seines politischen Engagements für den kurdischen Widerstand in den Süden von Irak verbannt worden, wo er drei Jahre unter Hausarrest stand. Von 1987 bis 1992 lebte er im schwedischen Exil. Danach kehrte er zurück und ist in der Autonomen Region Kurdistan sogar zeitweise Kulturminister gewesen.
Für „die Freiheit der Fische“ und „gegen das Netz“ – in diesem schönen Leinenband findet sich fast überall der Freiheitsgedanke, der für den Dichter eine allumfassende Bedeutung hat. Der Einzelne muss frei sein. Damit knüpfte Bekas durchaus an westeuropäisches Gedankengut an. Eher in sich gekehrt, wie ihn Bachtyar Ali beschreibt, wusste er seine Landsleute zu inspirieren, die in ihm den Dichter ihrer Nation gesehen haben. Dabei habe er nicht nur Abschied von der klassisch traditionellen Dichtkunst genommen, er stellte sich auch „gegen den blinden Gehorsam in der Religion… und einige Mullahs sprachen eine Fatwa gegen ihn aus“.
Vor allem in Bekas‘ Liebesgedichten spürt man das Aufbegehren zu einer persönlichen Freiheit der Meinungen, des Körpers, des Gefühls. Wobei der Zauber für hiesige Leser noch in etwas anderem liegt. So sehr Bekas ein Neuerer war, so sehr klingt in seinem Werk doch eine Literaturtradition nach, die für uns unter Jahrhunderten begraben ist: die mündliche Dichtung. Nicht von ungefähr würdigt Bachtyar Ali seine Kunst des Vortragens. Wenn Sherko Bekas das Geschriebene zu Gehör brachte, habe er sich gleichsam in einen anderen Menschen verwandelt.
Wortmagie: Dazu gehören die sprechenden Blumen, der leidende See. Die Natur ist beseelt. So haben es Bekas‘ Vorfahren empfunden. Deren Energie nimmt er auf in sein Werk. Etwas fremd Vertrautes schenkt er uns. Lassen wir uns bezaubern.
Irmtraud Gutschke
Sherko Bekas: Geheimnisse der Nacht pflücken. Gedichte. Aus dem Kurdischen von Reingard und Shirwan Mirza und Renate Saljoghi. Mit einem Vorwort von Bachtyar Ali. Unionsverlag. 95 S., Leinen, 18 €.