Die Schöpfung als Anrede
In Christian Lehnerts neuem Gedichtband „Opus 8. Im Flechtwerk“ spricht sogar das Kolibakterium
Irmtraud Gutschke
Schlägt man den Klappentext des hier besprochenen Bandes auf, liest man: „Im Flechtwerk, Lehnerts achter Gedichtband, ist ein streng gefügtes Werk. Siebenmal acht Gedichtpaare bilden ein Flechtwerk, eine verwobene Kunst der Fuge. Musikalische Strukturen prägen den Zyklus: von Reimklängen bis zur Motivverarbeitung in verschränkten Zusammenhängen nach dem Vorbild barocker Kantaten.“ Man kann dem Suhrkamp Verlag dankbar dafür sein, dass er das neueste Werk dieses besonderen Lyrikers so für uns aufschlüsselt; noch mehr dafür, dass er ihn von 1997 an bis heute so treu begleitet hat. So besonders ist Christian Lehnert, weil er bei allem literarischen Formbewusstsein zugleich Theologe ist. Und das nicht lediglich, weil er Religionswissenschaft, evangelische Theologie und Orientalistik studiert hat und als ein Kenner der christlichen ebenso wie der jüdischen und muslimischen Religion gilt, sondern vor allem weil er den Glauben in seiner Seele lebt. Nicht nur von der Heiligen Schrift, dem Wort her, sondern aus dem Erleben heraus, der Erfahrung von etwas Irdischem und gleichzeitig Wunderbarem. Lehnert kann die Schöpfung als eine Anrede Gottes an den Menschen empfinden. Das ist ein Vermögen, eine Gabe, die sogar – er verzeihe mir – oft über das hinausgeht, was Kirche bietet. Wer meint, dass mit solcher Gabe ein großer Schritt zur Dichtung getan sein, verkennt, wie groß dann der Schritt noch ist, das Empfinden in Worte zu übertragen, die für andere ja nachvollziehbar werden sollen. Da ist „Der Aufbruch der Graugänse“ wohl ein Beispiel dafür, wie solche Tiefe des Erlebens auch beim Lesen erreicht werden kann.
„Ein Schwingen/Laut und Schwingenschlag/gesagt
War nichts/ doch nichts blieb von nun an gleich:
Die Auen zitterten um einen Teich/
Dort war kein Land/ dort war ein andrer Tag.
Ich stand in einer Schalung/ einem Pochen/
Das in die Knie kroch/ sah Flügel ragen/
Und Leiber stiegen auf/ ein Tausendklagen/
Und alles schrie/ das Licht war wie gestochen.
Es scheint wie von selbst zu gelingen: Der Dichter nimmt ein Bild auf und übersetzt es in Ausdruck. Aber es ist natürlich gearbeitet worden: am Rhythmus, am Reim – ja, um nicht nur uns zu erreichen, sondern gleichsam auch den Gänsen zu antworten. „Der Dichter antwortet“, hat Christian Lehnert in einem Gespräch gesagt. „Ich lausche und dabei entsteht das Eigene.“
Naturlyrik – und darum handelt es sich hier – lebt wohl immer auch von der Anschauung, vom Staunen. Aber in Christian Lehnerts Fall hat dieses Staunen eben eine bewusste theologische Dimension. Beziehungsreich in diesem Sinne, wie er den Abschnitten seines Buches Zitate aus dem „Buch Sohar“, von Meister Eckart, von Johann Georg Hamann und Jacob Böhme voranstellt. Uralte Offenbarungen: „Im gegenwärtigen Augenblick erschafft Gott die Welt und alle Dinge“, heißt es bei Meister Eckart (1260-1328). „Wenn du ansiehst, die Tiefe und die Sternen und die Erden/ so siehst du deinen Gott und in demselben lebest und bist du auch/ und aus demselben Gott hast du auch deine Sinnen“, sagt Jacob Böhme, dem man seine Unzufriedenheit mit dem offiziellen Luthertum anmerkt.
Sinnendes Staunen in der Beobachtung: „Der Lungenbaum/ die Linde/atmet ein.“ Sich hineinfühlen in die „denkende Hasel“, Zwiesprache mit dem Aal. Achtung für Winzigkeiten, ob es die Blaualgen sind oder der Süßwasserpolyp. Sogar das Kolibakterium spricht. Ja auch die Viren gehören dazu. Überall ist Leben, ist Bewegung: Sei es der Kartoffelkeim oder das Abendpfauenauge. Lauert die Herbstspinne wirklich „auf die Erinnerungen“? Wir wissen es nicht. Und kommt nicht auch aus diesem Nichtwissen die Religion? Auch Atheisten müssten es doch spüren: Es gibt etwas Größeres als wir“, wie der Schriftsteller Navid Kermani, der sich zum Islam bekennt, ein Kapitel seines neuen Buches überschrieb. Christian Lehnerts Gedichtsammlung ist für mich wie eine ausgestreckte Hand, die ich ergreifen möchte, um dann auch anderen Menschen die Hand zu reichen. „Fließendes Licht“ (da denke ich auch an Mechthild von Magdeburg), „Mit dem Mohn gebetet“, „Auf dem Dachboden“, „Die Nacht ist vorgedrungen“ – nimm die Worte in dich auf, sieh die Bilder und übe dich im Staunen.
Christian Lehnert: Opus 8. Im Flechtwerk. Suhrkamp, 121 S., geb., 22 €.