„Ach Arbat, mein Arbat …“
Vor 100 Jahren wurde der russisch-georgische Liedermacher Bulat Okudschawa geboren
Irmtraud Gutschke
Jauchzende Freude, als ich in der Vorschau des Lukas Verlags den Band „Bulat Okudschawa: Mein Jahrhundert. Lieder und Gedichte“ entdeckte. Denn diese Lieder, wie liebe ich sie, wie wünschte ich mir, sie wieder zu hören. Gleich rief ich Ekkehard Maaß an, den Nachdichter und Herausgeber. Und nun freue ich mich schon auf seinen Gesang – auf Russisch und auf Deutsch. Im Band kann man beides vergleichen und ermessen, was er geleistet hat.
„Die Lieder Bulat Okudschawas sind für mich wie Landschaften, in denen ich ein Leben lang spazieren gehen kann, ohne zu ermüden“, schreibt er im Nachwort. Am Telefon erzählte er, dass es oft jahrelange Arbeit brauchte, um bei der deutschen Fassung so nah wie nur irgend möglich am Original zu bleiben. Weil er kein eigenes dichterisches Credo zu verteidigen hat, würde er nicht der Versuchung erliegen, den anderen sich selber anzugleichen.
Was für ein Kontrast zu dem selbstverliebten Wolf Biermann, der auf der Leipziger Buchmesse mehr für sich als für den Band Reklame machte. „Ein literarischer Dolmetsch darf nicht mit hängender Zunge hündisch dem Original hinterherhecheln“, erklärt er im Vorwort. Wahrscheinlich steht ihm der „Schreihals“ Wladimir Wyssozki ja sowieso näher als dessen „romantischer Gegentyp“, dieser „dunkle georgische Kaukasus-Mann“ mit der „Lenin-Glatze“.
Geboren wurde Bulat Okudschawa am 9. Mai 1924, als das noch nicht der „Tag des Sieges“ war –, als Kind kommunistischer Eltern, die er früh verlor. Der Vater, ein hoher georgischer Parteifunktionär, wurde 1937 als „Trotzkist“ erschossen, die Mutter als „Frau eines Volksfeindes“ für 18 Jahre in ein sibirisches Arbeitslager gesteckt. Der Sohn wuchs bei der Großmutter in Moskau und Georgien auf und meldete sich 1942 freiwillig an die Front. Schwer verwundet, überlebte er – als Einziger in seiner Einheit.
Das wusste ich nicht, als ich ihn im Dezember 1976 im Palast der Republik zum ersten Mal erlebte. So wie ich damals vieles nicht wusste, wohl auf eine eher unbewusste Weise verstand oder mir das nahm, was zu meiner Stimmung passte. Da werde ich nicht die einzige sein, die beim Lesen dieses Buches das Einst und das Heute überdenkt. Unwillkürlich habe ich mitgesungen: „Das Lied vom Moskauer Ameis“, das „Gebet“ („Solang sich noch die Erde dreht“), „Mozart spielt auf einer uralten Geige“, „Er schließlich kam und trat ins Haus“, das „Georgische Lied“ („Eine Weinrebe will ich in feuchtwarmen Erdboden graben“) … Mit seinen pazifistischen Aussagen („Krieg, verfluchter, was hast du uns angetan“) habe ich mich auch damals im Einklang gefühlt. Heute geht einem das „Lied von den Soldatenstiefeln“ mehr denn je unter die Haut.
Dass „zwischen den Zeilen Leid und Trauer der Kriege und Diktaturen des vorigen Jahrhunderts spürbar“ werden, „die auch meine deutsch-baltischen Vorfahren erleben mussten“, schreibt Ekkehard Maaß. In ihren Nachbemerkungen betonen er und Katja Lebedewa das Dissidentische bei Okudschawa, das sie beide auch lebten, während ich Redakteurin für Auslandsliteratur im „ND“ war. Der Okudschawa-Band mit Liedtexten, Noten, einer Schallplatte und einem Interview, 1985 im Verlag Volk und Welt erschienen, steht seitdem bei mir im Regal.
Was ich damals auf Russisch las, wäre mir nicht wörtlich in Erinnerung geblieben, wenn es nicht eine tiefe Saite in mir berührt hätte. Etwas Ureigenes – eine Trauer, eine Sehnsucht. So wie der „himmelblaue Luftballon“ aus dem gleichnamigen Lied. Dass die „Tribünen“ oft höher waren als die „Siege“, die es zu feiern galt –, es stimmte doch. Überhaupt gehörte das Fragende, Grübelnde zur sowjetischen Literatur, wie wir sie liebten. Katja Lebedewa hat Recht, dass die „traurig-ironischen Verse“ eine Alternative boten zur offiziellen „Staatskultur“ mit ihrer „künstlichen Munterkeit und ihrem patriotischen Pathos“. Protest gegen stupid Ideologisches – von dem man sich überhaupt abwenden kann (und sollte), wenn man ein nachdenklicher Mensch ist.
Bulat Okudschawa ist am 12. Juni 1997 gestorben. Vielleicht nehme ich heute den Schmerz deutlicher wahr, der für seine Kunst so prägend ist. Dieser poetisch-melancholische Ton – es war und ist für mich der Klang von Moskau. „Ach Arbat, mein Arbat“ – noch vor fünf Jahren bin ich dort an einem Abend im Mai spazieren gegangen und habe Okudschawas Lied vor mich hin gesummt.
Bulat Okudschawa: Mein Jahrhundert. Lieder und Gedichte. Russisch/Deutsch. Herausgegeben, nachgedichtet und kommentiert von Ekkehard Maaß. Illustrationen von Moritz Götze. Lukas Verlag, 136 S., br., 20 €.