Das leibliche und das geistige Auge
Irmtraud Gutschke
Was für ein wunderbarer Titel: „Unendliche Landschaften“! Unendlichkeit wünschen wir uns zwar vergeblich für unser Leben und doch strebt die Seele danach. Etwas, das zu gewinnen ist und etwas das verloren ging – Utopie und Nostalgie. Denn dieser enge, sinnliche, ja anbetende Bezug zur Landschaft ist der heutigen Kunst ja weithin abhanden gekommen. Nicht ohne Grund: So scharfkantig, schmerzhaft erscheint Realität, dass das Schöne als Lüge erscheinen kann.
Schon in den ersten Tagen nach ihrer Eröffnung am 19. April 2024 zog die Ausstellung zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich in der Alten Nationalgalerie in Berlin 8500 Besucher an. Wie groß der Besucherandrang insgesamt war, wird man nach dem 4. August erfahren, wenn sie ihre Tore schließt. Das große Katalogbuch aus dem Prestel Verlag aber wird bleiben. An die 140 Abbildungen und profunde Beiträge von mehreren Kunstwissenschaftlern – eine wichtige Quelle für die Forschung und eine beständige Freude für Freunde der Malerei. Dabei feiert die Berliner Nationalgalerie sich auch selbst. Zu Recht, bewahrt sie doch eine der größten Friedrich-Gemälde-Sammlungen weltweit. Und sie ist dem Maler auf beispielhafte Weise treu geblieben, nachdem er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten war. Mit der legendären „Deutschen Jahrhundertausstellung“ 1906 hat sie viel für seine Wiederentdeckung getan.
Den größten Teil des dicken Bandes machen indes Betrachtungen zur Kunst Caspar David Friedrichs aus, wobei auch Werke anderer Künstler – Gustave Courbet, William Turner, Hiroyuki Masuyama u.a. – zum Vergleich herangezogen werden. Auch seine Zeichnungen aus dem Berliner Kupferstichkabinett kommen nicht zu kurz. Wie Kopien entstanden, welche neuen Forschungen es inzwischen zu seiner Maltechnik gibt und wie er spätere Künstler inspirierte – weit spannt sich der thematische Bogen des Buches. Eichen, Tannen, Felsen, der Mond, gotische Ruinen, Hünengräber, Männer in altdeutscher Tracht – tatsächlich hat der Künstler immer wieder auf eigene motivische Versatzstücke zurückgegriffen. Sinnbildhaft im religiösen Sinne?
„Dass Friedrich mit seinen Gemälden Gedanken verbunden wissen wollte, die über die buchstäbliche Bedeutung einzelner Motive als Versatzstücke der Natur hinausgehen, ist weitgehend unumstritten“, schreibt Johannes Grave in seinem überaus interessanten Essay. Doch Malerei lebt eben nicht nur von Gedanken, sondern von komplexeren Prozessen der sinnlichen Erfahrung. „Die Wahrnehmung eines Bildes lässt sich nicht allein auf das Registrieren von Motiven, Gegenständen und Figuren sowie deren Relationen im Bildraum oder auf der Fläche reduzieren. Vielmehr kann die Aufmerksamkeit jederzeit auch den Strichen, Spuren, Flächen, Farben etc. gelten … Bilder vermitteln nicht allein dadurch Sinn, dass sie Zeichen vor Augen stellen, die dechiffriert und in die Form eines Aussagesatzes gebracht werden können. Vielmehr verlangen sie eine aktive Beteiligung im Prozess der Bildbetrachtung und konfrontieren mit Erfahrungen, die ihrerseits sinnhaltig sind, ohne sogleich versprachlicht werden zu können.“
Das Bild als „Kommunikationsmedium“ zu verstehen betont, wie ich meine, jene Subjektivität, die ebenso auch der Literaturbetrachtung eigen ist. Die dazu gehörigen Wissenschaften aber müssen sich scheuen, im subjektiv Vagen zu bleiben, weil sie ja einen akademischen Rang zu verteidigen haben. Daher der Hang zur Abstraktion. Andernfalls müsste Kunstwissenschaft ja selber zur Kunst werden, was ihr mitunter ja sogar gelingt.
Wobei Ralph Gleis in seinem Essay „Zeitensprünge“ wohl zuzustimmen ist: Nicht allein die Sinnenerfahrung wie bei den Impressionisten war Ausgangspunkt für Friedrichs Kunst, „sondern die Introspektion des Subjektes“. Was er mit einem Zitat des Malers belegt: „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“
Caspar David Friedrich: Unendliche Landschaften. Für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin herausgegeben von Birgit Verwiebe und Ralph Gleis. Prestel Verlag, 352 S., geb., 49 €.