Vielleicht eine LebensbilanzVom Älterwerden und der Gegenwart
Von Irmtraud Gutschke
Es dürfte selten sein, dass eine 80-Jährige den Ingeborg-Bachmann-Preis gewinnt. Dass es Helga Schubert mit der Titelerzählung dieses Buches gelang, brachte ihr verdiente Aufmerksamkeit, nachdem sie 2003 ihr bis dahin letztes Buch veröffentlicht hatte. Ihr neues nun versammelt 29 kurze Texte: Erinnerungen, Beobachtungen, Besinnen. Ein leiser, nachdenklicher Erzählton, ganz unambitioniert, persönlich, authentisch – es ist diese „Echtheit“, mit der das Buch einem nahe kommt. Das Unverstellte. Und es geht um Großes: Versöhnung.
Versöhnung mit der Mutter, die 101 Jahre alt wurde, ehe sie starb, und mit dem eigenen Leben. Die Mutter, die ihren Mann 1941 im Krieg verlor, konnte ihre Verletzung nicht verwinden. Noch schlimmer vielleicht waren die Folgen für die Tochter. Als der Vater an der Ostfront von einer Granate zerfetzt wurde, mit gerade mal 28, war Helga erst ein Jahr alt. Sie hat ihn nicht kennengelernt, stellt sich aber vor, wie er sie vielleicht geliebt, sie getröstet und in den Arm genommen hätte. Aber die Mutter, Witwe nun, ist hart geworden. Was es für sie bedeutete, mit der kleinen Helga zu Fuß in einem dreirädrigen Kinderwagen vor den Panzern der Roten Armee zu den Schwiegereltern nach Greifswald zu fliehen, ihre Tochter machte es sich erst später bewusst. Und sie kann ihr in Gedanken danken: dafür, dass sie auf der Welt ist, und für manches andere noch, das ihr jetzt ins Gedächtnis kommt.
„Ein deutsches Jahrhundertleben“, wirbt der Verlag. Alles gut“, lautet der letzte Satz in dieser Erzählung und im Buch.
Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. Deutscher Taschenbuch Verlag, 222 S., geb., 22 €.
Als studierte Psychologin hatte Helga Schubert in den 1960er Jahren mit dem Schreiben begonnenEs e