Gelächter im Chaos – unter Tränen
Auf den Trümmern der UdSSR: Wladimir Medwedews packender, farbenprächtiger Roman führt nach Tadschikistan und hat gerade jetzt neue Brisanz gewonnen
Von Irmtraud Gutschke
Es sollte ein unterhaltsames Buch werden. Und das vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Tadschikistan Anfang der neunziger Jahre? Wladimir Medwedew ist es gelungen. Der Roman beginnt mit dem Mord an einem tadschikischen Arzt, den aufzuklären der örtliche Staatsanwalt kein Interesse hat. Die Leiche wird sofort zum Begräbnis freigegeben. Seine russische Frau hat schon einen Sarg zimmern lassen, den sie zurücklässt, als Verwandte des Mannes eintreffen, um den Toten zwecks islamischer Bestattung ins heimatliche Bergdorf zu bringen. Die resolute Vera und ihre halbwüchsigen Kinder Andrej und Sarina steigen mit auf den Lastwagen, aus Angst vor den finsteren Gestalten vor ihrem Haus, die „mit diesen Russen abrechnen“ wollen.
Wie Vera erleben muss, dass ihr Mann bereits eine tadschikische Frau hatte, wie Eifersucht hohe Wellen schlägt, wie ganz unterschiedliche Mentalitäten zusammenstoßen, das wird teils ernst, aber auch heiter erzählt. Wie die Situationskomik überhaupt zum Arsenal dieses Schriftstellers gehört, was angesichts der teils haarsträubenden Vorgänge, die er beschreibt, immer wieder überraschend ist. Die blonde Sarina wird in Gefahr geraten, weil mehrere Männer sie begehren und die Familie verlangt, dass sie verheiratet wird. Ihr Selbstbewusstsein wird sie nicht retten, als sich Suchur, der mächtigste Mann im Ort, einmischt. Der ist einst Instrukteur des Kreisparteikomitees gewesen. Und nun geriert er sich wie ein mittelalterlicher Feudalherr. Dabei offenbart er eine Grausamkeit, die aus Vorzeiten kommt und zu der Verbrechergruppe passt, die ihn beschützt.
Er braucht Schutz, weil es im Drogenhandel Verteilungskämpfe gibt und weil er den Anbau von Mohn forcieren will. Um den Bauern ihr Weideland zu nehmen, setzt er auf Überredung und Abschreckung. Sein Verbündeter und Kontrahent ist Dawron, der als sowjetischer Offizier in Afghanistan gedient hat und nun eine Armeeinheit befehligt. Über beiden steht der Bandenchef „Großvater Sangak“, der die meiste Zeit seines Lebens wegen krimineller Machenschaften in Gefängnissen zugebracht hat. Nun sitzt er am Schreibtisch des einstigen Gebietssekretärs der KPdSU, voller Stolz, weil sein Stammbaum bis zum Enkel des Propheten Mohammed reicht.
Kapitelweise lässt uns Wladimir Medwedew das Geschehen aus den unterschiedlichen Perspektiven seiner Gestalten beobachten. Dabei ist ihm der wagemutige russische Journalist Oleg am nächsten, weil er den größten Durchblick hat. Zuweilen erscheint er wie ein Alter Ego des Autors, der als Monteur, Helfer in einer Geologentruppe, Dorflehrer, Fotojournalist, Patentfachmann in einem Redaktionsbüro, Sporttrainer und Literaturredakteur lange in Tadschikistan gelebt hat, aber inzwischen in Moskau wohnt.
„Russland hat uns verlassen“, sagt ein Bauer im Roman, „damit ist auch die Sowjetmacht verschwunden. Jetzt kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus, in welcher Zeit wir eigentlich leben.“ Im Westen ist es ja üblich die Unabhängigkeit einstiger Sowjetrepubliken als Errungenschaft zu feiern. Aber letztlich ging es dabei um geopolitische Machtverschiebungen, von denen einige Republiken – die drei baltischen machten ja den Anfang – zu profitieren hofften. Jene im Südosten aber, die von Moskaus Unterstützung abhängig gewesen waren und die zum Teil wohl nicht ganz freiwillig die Union verlassen hatten, gerieten in eine desolate Lage. Die Unabhängigkeit, wenn auch pflichtgemäß stolz gefeiert, stürzte diese Staaten in politökonomische Konflikte, nicht selten auch in kriegerische Auseinandersetzungen, und verstärkte die soziale Spaltung. Das führt der Roman so vor Augen, dass man es nie mehr vergisst.
Wladimir Medwedjew lässt uns den Menschen sehr nahe kommen, die wider Willen in diese Auseinandersetzungen hineingeraten sind. Ergreifendes, Tragisches, Schreckliches, Actionszenen, Traumsequenzen, Witziges, Skurriles – all das hat der Übersetzer Helmut Ettinger so ins Deutsche gebracht, dass man mitgerissen ist. Gelächter im Chaos – unter Tränen. Ein Aspekt des Buches ist auch, wie die sowjetische Vergangenheit auf mitunter bizarre Weise fortlebt. Überraschend zum Beispiel zu erfahren, wer der tatsächlich tief religiöse Eremit in den Bergen, auf den alle im Ort hören, in Wirklichkeit ist. Er steht an einem Abgrund wie auch Dawron, den der Afghanistan-Krieg zu einer Kampfmaschine gemacht hat. So schien es jedenfalls, doch dann bekommt der Roman noch eine unerwartete Wendung.
Zu beglückwünschen ist der Aufbau Verlag zur Entdeckung dieses Autors wie auch zur Entscheidung, ein umfangreiches, faktenreiches Nachwort von Arne C. Seifert hinzuzufügen, der jahrzehntelang für die OSZE gearbeitet hat. Er leuchtet tief in die Hintergründe des Romans hinein und stellt auch die einzelnen Gestalten in diesen Zusammenhang. Nachdem die Tadschiken, wie er schreibt, 1991 von der Auflösung der UdSSR aus dem Fernsehen erfuhren, „war Plätze-Umverteilen angesagt … Bürgerkrieg und die von ihm ausgelöste Anarchie schufen dafür den Rahmen.“ Gleichzeitig trieb der Westen eine „Transformations-Schockstrategie“ voran, „dessen oberstes Anliegen die schnellstmögliche Privatisierung von staatlichem und kollektivem Eigentum war“. Bemerkenswert seine Feststellung, , dass in Mittelasien „für lange Zeit mit einem Nebeneinander von partikularen Loyalitäten (Familie, Clan, Region, Führer) und gesamtnationalen Bindungen zu rechnen ist… Demokratieförderung muss daher vor allem auf die Herstellung von Frieden, Stabilität und Funktionsfähigkeit der Gesellschaft gerichtet sein. Hoffnungen darauf, dass in diesem Raum westliche politische Systeme stabil Fuß fassen, sind auf Sand gebaut.“
Inzwischen ist es zu einer weiteren Zuspitzung gekommen: Nicht nur verängstigte Menschen auf der Flucht, auch Militärangehörige aus Afghanistan dringen nach Tadschikistan ein. Unsereins ist ja nicht müde geworden, die Anwesenheit von US-Truppen wie auch eines deutschen Kontingents in Afghanistan zu kritisieren, aber nach ihrem Abzug scheint der „Schwarze Peter“ nun in Moskau zu liegen. In kurzer Zeit haben die radikalislamischen Taliban weitere Gebiete erobert, so dass sie inzwischen 900 km der 1357 km langen Grenze mit Tadschikistan kontrollieren. Von dort aus wurde das Militärbündnis ODKB bereits um Hilfe ersucht, dem das Land neben Russland, Armenien, Belarus, Kasachstan und Kirgistan angehört. Im Falle eines Angriffs, so der russische Außenminister Sergej Lawrow, würde Russland Tadschikistan unterstützen und auch seine dortige Militärbasis nutzen. Vor wenigen Tagen wurde in Duschanbe bei einem Treffen der Außenminister der Shanghaier Organisation, der außerdem China, Pakistan, Indien und Usbekistan angehören, über ein gemeinsames Vorgehen beraten.
Wladimir Medwedew: Im Strom der Steine. Roman. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, 654 S., geb., 26 €.