Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Hermann Kant: Therapie

Da ich schlecht einen von mir herausgegebenen Band auch rezensieren kann, soll hier ein Interview zu lesen sein, das ich der Zeitung „neues deutchland“ gab, dazu eine Rezension von Gunnar Decker, und am 3. Juni kommt noch der Link zu einer Veranstaltung hinzu, die per youTube zu sehen ist.

Geistig beweglich bleiben

Irmtraud Gutschke spricht über den Schriftsteller Hermann Kant

Mit »Therapie« hat Irmtraud Gutschke späte Texte von Hermann Kant herausgegeben

Die jüngste von dir edierte Textsammlung waren »Tiergeschichten« von Tschingis Aitmatow. Und nun erschien ein Band zu Hermann Kant. Was hat dich zu dieser Arbeit bewegt?

Ich habe mit ihm ja 2007 das Gesprächsbuch „Die Sache und die Sachen“ gemacht und war seither mit ihm in Verbindung. Ich wusste, wie sehr er sich über einen Band im Aufbau Verlag gefreut hätte, in dem auch seine letzte Erzählung, „Ein strenges Spiel“ veröffentlicht ist. Die hat er zunächst im Selbstverlag publiziert.

Was hat dich besonders an Hermann Kant beeindruckt?

Wie wortmächtig er war. Trat er im Schriftstellerverband der DDR auf, empfand ich das immer als Ereignis. Durch seine Sprachkraft schuf er einen Abstand zwischen sich und anderen. Er konnte aber auch sehr einfach sprechen.

In der Ankündigung zum Buch steht, dass Kant Gestaltungsmut hatte. Was bedeutet das?

Einfach nur „geradeaus“ zu erzählen, das war ihm zu wenig. Es machte ihm Spaß, vielschichtige Gedanken in seine Sätze zu packen und so lange an ihnen zu feilen, bis diese eine Dialektik in sich trugen und auch sprachlich überraschend waren. Das war für seine Leser Lust und Herausforderung zugleich. Gestaltungsmut bewies er aber auch als Präsident des Schriftstellerverbands der DDR. Er musste Balance halten zwischen den Erwartungen der SED-Führung und denen der Autorinnen und Autoren. Die Machthabenden in der DDR wünschten sich Mitstreiter in ihrem Sinne, eigentlich schlichtweg ideologische Erfüllungsgehilfen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller dagegen bestanden auf ihrem Recht zum Einspruch in gesellschaftliche Angelegenheiten, gerade auch, wenn das mit Kritik verbunden war. Da waren Konflikte programmiert. In diesem Sinne eingreifende Literatur erwarteten auch die Leserinnen und Leser. Einfluss und Prestige von Literaturschaffenden waren in der DDR weit größer als heutzutage. Wer könnte sich vorstellen, dass ein Umweltminister sich vor einem Schriftstellerkongress verantworten müsste.

Er sagte selbst, dass das Wichtigste an der DDR der Traum von ihr war. Darin steckt auch Enttäuschung darüber, wie sich das Land entwickelte.

Er dachte aber immer, dass man das schon hinbekommt. Das, was falsch lief, war für ihn wie ein fauliges Stück an einem sonst guten Apfel. Von der Idee einer besseren Gesellschaft hat er sich nie verabschieden wollen.

Dann kam 1990, die Wiedervereinigung. Die Folgejahre waren nicht leicht für ihn. War er verbittert?

Wegen seiner Funktion wurde er in der Öffentlichkeit zum Sündenbock gemacht. PEN und Akademie der Künste sagten sich von ihm los. Mehrere Prozesse führte er gegen die Behauptung, dass er IM der Stasi gewesen sei. Im hier abgedruckten Briefwechsel mit Hermann L. Gremliza von 2007 hat er sich detailliert dazu geäußert. Hinzu kamen private Sorgen. Seine Frau verlor ihre Anstellung in der Akademie der Künste und zog mit den Kindern nach Cambridge. Schließlich fand er sich in seiner kaum heizbaren Gartenlaube in Prälank wieder, in sehr bescheidenen Verhältnissen. Die nahm er ohne Klage für sich an, ich denke, auch weil er in Armut aufgewachsen war. Ich habe ihn nie verbittert erlebt.

Für ihn wichtige Erlebnisse verarbeitete Kant literarisch. Was sind für dich die Highlights, die du für dein Buch ausgewählt hast?

»Ein strenges Spiel« hat er zu schreiben begonnen, als er mit einer Entzündung an seiner künstlichen  Herzklappe im Krankenhaus lag. Auf kunstvolle Weise lässt er darin sein Leben Revue passieren. Sehr wichtig für das Verständnis seiner Biographie ist die Rede »Über Schriftstellerei«, die er 1989 in Warschau hielt. Denn die vier Jahre seiner Kriegsgefangenschaft in Polen haben ihn als politisch denkenden Menschen wie auch als Schriftsteller geprägt.

Gibt es etwas, das du für dich aus den Gesprächen mit Kant mitgenommen hast?
Geistig beweglich bleiben, sich nicht der Gegenwart und Zukunft verschließen.

Ironiker mit Abgründen

Immer wieder große Themen: Hermann Kants »Therapie«, herausgegeben von Irmtraud Gutschke

GUNNAR DECKER

Seine Eröffnungssätze sind legendär. »Abspann« (1991) hebt an: »Ich sei, hat meine Mutter dem Fernsehen erzählt, ihr regierbarstes Kind gewesen.« Das will man dann doch gleich genauer wissen – und liest weiter.

In »Die Aula« (1965) leistet sich Hermann Kant sogar einen überaus barocken ersten Satz, der ein ganzes Selbstporträt als Autor ersetzt: »Da sitzt einer über seiner Schreibmaschine, raucht zu viel, bläst Staub von denTasten, beißt in einen Apfel und denkt an Schiller dabei, starrt auf das leere Papier und dann auf die Uhr, kratzt an dem verklebten kleinen a herum, bis es wieder sauber ist, hat schon wieder eine Zigarette in Brand und nennt das ganze Arbeit.« Wir erfahren, Schreiben bedeute, auf Gedanken zu lauern. Das »Impressum« dagegen fängt bündig, fast schon salopp an: »Ich will aber nicht Minister werden!«

Und nun dieser eher schmale Band »Therapie«, mit späten Texten von Kant, von denen einige in dieser Zeitung erschienen, mitsamt einem ebenso ausführlichen wie erhellenden Gespräch mit Irmtraud Gutschke von 2014. Da war der Autor bereits achtundachtzig Jahre alt. Er starb 2016. Der zentrale Text des Bandes, in dem die abgründig-hakenschlagende und Winkelzüge zelebrierende Erzählweise Kants, die um keine Abschweifung verlegen ist, noch einmal zur vollsten Blüte kommt, ist gewiss »Ein strenges Spiel«. Dieser erschien ebenfalls 2014 als Privatdruck. Schnell drucken, damit er das Resultat noch in Händen halten und seinen Freunden schicken konnte! Diese Vitalitätsdemonstration eines bereits Schwerkranken gelang – typisch für Kant – am Gegenstand einer lebensbedrohlichen Situation.

Der erste Satz hier: »Und dabei hätte ich schon so schön tot sein können.« Die folgenden zwanzig Seiten handeln von einer nächtlichen Rettungsaktion, die dem Autor in der Erinnerung höchst zwiespältig erschien. Kant, der nach der Wende die längste Zeit in einem Sommerbungalow (auch im Winter) im mecklenburgischen Prälank lebte, war, wie seinen Berliner Freunden nicht verborgen blieb, in schlechter Verfassung, schwach und fiebrig. »Wenn du tief in der Nacht im Bett liegst, und zwar allein, und sicher bist, Tor und Tür sind verschlossen, dann weißt du, zur Zeit hat unter deinem Dach keiner was zu suchen, und du schläfst einen – im verhandelten Fall fiebrigen – Schlaf der Gerechten. « Dann aber dringen Fremde mit Lärm bei ihm ein, stehen vor seinem Bett, wollen ihn itnehmen.

Es ist sein Berliner Arzt, der spätabends alarmiert worden war, mitsamt Polizei und Sanitätern. Sie kommen ihn zu retten! Kant, der, wie er erstaunt bemerkt, nicht vor Schreck sofort tot umgefallen ist, notiert im Nachhinein: »Mich hatte keiner zu retten.« Und beginnt eine Reise zwischen nüchternem Bericht aus dem Krankenhaus (Virusinfektion an der künstlichen Herzklappe) und Assoziationen, Beobachtungen und Reflexionen. Ein typischer Kant eben, der noch in der Situation des hilflos Ausgeliefertseins sich Stärke anschreibt. Wir lesen die erstaunlich gegenwärtig klingenden Sätze der Rebellion: »So wenig wie in Haft, wollte ich in eine Gesundungshaft.«

Das Gespräch mit der Herausgeberin Irmtraud Gutschke, der langjährigen Literaturredakteurin dieser Zeitung, ist ein fortgesetztes. Beide hatten schon in »Hermann Kant. Die Sache und die Sachen« gemeinsam Wahrheitssuche betrieben. Beim Schriftsteller Hermann Kant gar nicht einfach, denn einfache Wahrheiten gibt es für diesen nicht. Wer nicht willens ist, sich auch komplizierten Lebenswidersprüchen auszusetzen, braucht damit gar nicht erst anzufangen. Aber Irmtraud Gutschke will ohnehin keine einfachen Antworten, sie bietet stattdessen hilfreiche Begleitung an beim Durchwandern von Labyrinthen, ohne die die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht zu denken ist.

Kant folgt der Fragenden offensichtlich gern, denn sie öffnet auf einladende Art Türen in seine Biografie. Da mag er dann mitgehen, wenn auch nicht ohne eine gewisse kokette Lust an der Provokation. Seine Arbeit als Autor? »Einen Tischlermeister würde man mit 88 doch auch nicht fragen, woran er gerade arbeitet.« Er spricht dann doch über die Bürde des Alters für einen Autor. Warum sich nicht einfach auf die Gartenbank setzen und über den See schauen? Es gibt einen Drang und einen Zwang zu Schreiben. Arnold Zweigs letzte Arbeiten, so Kant, der sich selbst gegenüber wachsam blieb, seien nicht mehr überzeugend gewesen – und niemand wagte, es ihm zu sagen.

Es ist ein Exkurs über das Leben eines Menschen inmitten der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sein Vater war bis 1933 Orchideengärtner gewesen. Weil er sich weigerte, zur Entlassung eines kommunistischen Kollegen rituell Beifall zu klatschen, wurde er entlassen und musste als Straßenkehrer arbeiten. Kant selbst wurde Elektriker, kam als Soldat bei Kriegsende in polnische Gefangenschaft, wurde verdächtigt, ein Mörder zu sein – in »Der Aufenthalt« (1977), vielleicht seinem wichtigsten Buch, hat er darüber berichtet. Immer wieder große Themen, Jahrhundertthemen. Nach vier Jahren Gefangenschaft die Entlassung und die große Chance der Arbeiter- und Bauernfakultät, die ihm die DDR gab: »Dass die DDR die Tore aufgerissen hat für unsereins, war eine große sozialistische Tat.«

Kant erweist sich auch hier wieder als Sprachfetischist, der weiß, präzise denken heißt, sich präzise ausdrücken. Da ist er dann sehr genau: »Gleichmut hat die meisten Proben hinter sich. Seine Steigerung heißt Unerschütterlichkeit.« Dass es sich hierbei um das Gegenteil von Gleichgültigkeit handelt, muss man es noch sagen? Eindringlich die Erinnerung an seine Schwester Isa, die schließlich als Kneipenwirtin in Hamburg lebte: »Sie lebte nicht im Elend; es ist nur ein elendes Leben gewesen. Jede Menge Träume, alle geplatzt.«

Und Kant selbst? Hat geschrieben fast bis zuletzt. Es lohnt sich, das heute zu lesen, auch als Selbst-Therapie. Denn auch wenn Träume platzen, in der Beschreibung des großen Ironikers Hermann Kant ist das alles andere als ein elendes Leben.

Hermann Kant: Therapie. Erzählungen und Essays, Hg. v. Irmtraud Gutschke, Aufbau Verlag, 160 S., geb., 22 €.

Literatur ist ein anderes Wort für Ausweg«. Irmtraud Gutschke im Gespräch mit Olaf Koppe über Hermann Kants »Therapie«.

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