Nichts, was es nicht gäbe
Von Irmtraud Gutschke
Dass das Weibchen des Mondfischs 300 Millionen Eier legt, bedeutet, dass es sich fortan nicht groß um sie sorgt. „Je mehr Nachkommen eine Tierart hat, desto weniger kümmern sich die Eltern um den Nachwuchs“, schreibt Mario Ludwig. Plausibel. Ich habe nur eine Enkelin, und meine Tochter quält sich die ganze Zeit, ob sie alles richtig macht, weil die Kleine ihr nicht von der Seite weicht. Sie würde wohl am liebsten wie bei den Kängurus am Mutterleib in einem Beutel sitzen bleiben. Verständlich, warum nicht? Nichts ist ungewöhnlich, alles gibt es in der Welt der Tiere: junge Spinnen, die ihre Mütter auffressen dürfen, Mütter, die für ihre Söhne passende Frauen suchen wie bei den Bonobos, männliche Zwerghamster, die Geburtshilfe leisten, und bei den Seepferdchen bekommen die Männer die Kinder. Nach einem Balzritual, das mehrere Tage anhält, präsentiert das Männchen „geradezu lasziv“ einen weit geöffneten, mit Wasser gefüllten Brutbeutel, in den das Weibchen dann seine Eier ablegt, die anschließend befruchtet und ernährt werden. „Die Brusttasche eines Seepferdmanns hat also eine ganz ähnliche Funktion wie die Gebärmutter eines weiblichen Säugetiers“, und wenige Tage nach der „Geburt“ ist er schon wieder empfängnisbereit.
Dieses Buch lesend, muss man sich eingestehen, wie wenig man bislang vom vielfältigen tierischen Alltag wusste. Erstaunliche Einzelheiten noch und noch: Pinguine legen in großen Karawanen – watschelnd – 100 Kilometer und mehr zurück, um gute Brutplätze zu finden. Bei Albatrospaaren ist „goldene Hochzeit“ nicht ausgeschlossen. Je dunkler die Mähne eines Löwen, umso mehr Chancen hat er bei den „Frauen“, die das als Zeichen für Potenz ansehen, aber umso mehr leidet er auch unter der afrikanischen Sonne. Oft töten Löwenmänner, nachdem sie ein Rudel übernommen haben, ganz gezielt die Kinder ihres Vorgängers. Überhaupt finden sich „tödliche Eltern“ gar nicht so selten. Weil es für alle nicht reicht, bringen sie zu Gunsten ihrer stärkeren Nachkommen die schwächeren um.
Moralische Entrüstung bringt nichts. „Sowohl bei Löwen, Seelöwen, Hirschen, Pavianen und vielen anderen Tierarten gibt es Familienstrukturen, bei denen ein dominantes Männchen, der sogenannte Pascha, eine Schar von Weibchen, sprich einen Harem, um sich versammelt hat. Dagegen haben bei den Hyänen „die Frauen die Hosen an“, und männliche Bewerber haben es überhaupt nicht leicht, der „Dame ihres Herzens“ nahezukommen. Bei den Elefanten ist „Oma die Beste“. Einer Elefantenherde steht eine erfahrene Leitkuh vor.
Nichts, was es nicht gäbe: „Besonders bei homosexuellen Geiern scheint der Wunsch, ein Kind zu adoptieren und aufzuziehen, besonders ausgeprägt zu sein.“ Mehr als 1500 Tierarten soll es geben, bei denen Homosexualität offen ausgelebt wird. Im Zoo von Osnabrück konnte man zwei schwule Störche beobachteten, die ein Pinguinei ausbrüteten. Nach 14 Tagen schlüpfte ein weibliches Junges. Wie sollten sie es aufziehen bei so unterschiedlichen Nahrungsvorlieben? 2015 adoptierte im russischen Tierpark Primorje nahe Wladiwostok der Tiger Amur einen jungen Ziegenbock namens Timur, der ihm zum Fraß vorgeworfen worden war. In Taif, der fünftgrößten Stadt Saudiarabiens, lebt eine Gruppe von Mantelpavianen als eine regelrechte „Drei-Arten-Familie“ mit Hunden und Katzen zusammen. Der Autor meint, dass sich die Paviane „Schutzhunde“ halten, um sich vor anderen Raubtieren zu schützen, und sie dafür mit Nahrung belohnen. Allianzen zum gegenseitigen Vorteil – wenn es bei Menschen nur immer so einfach wäre.
Der Autor hat sich eine Riesenarbeit gemacht, so viele interessante Fakten zusammenzutragen (15 Seiten umfasst das eng gedruckte Literaturverzeichnis), und er weiß, regelrecht spannend zu erzählen.
Mario Ludwig: Das Familienleben der Tiere. Wie sie leben, lieben, streiten. WbgTHEISS, 191 S., geb., 20 €.