„Der Beobachter hat ein Herz“
Landolf Scherzer wurde 80 – Hans-Dieter Schütt hat ein Buch mit ihm gemacht
„Sein Arbeiten hat Straßenstaub und Grassamen an den Schuhen“, meint Hans-Dieter Schütt. „Ein störrischer Querfeldeinläufer“ – so charakterisiert er diesen Schriftsteller, der am 14. April 1941 in Dresden geboren worden ist. Tatsächlich, wie viele tausend Kilometer mag Landolf Scherzer wohl auf den Beinen gewesen sein, um seine Reportagen zu verfassen. Für sein Buch „Der Grenz-Gänger“ (2005) zum Beispiel wanderte er in 15 Etappen auf dem ehemaligen Grenzsteifen zwischen Thüringen, Bayern und Hessen. Für „Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten“ (2010) lief er allein durch sieben Länder. Nur das Allernötigste konnte er in seinen Rucksack packen. „Unterwegs bin ich der letzte Stromer“, bekennt er. „Du bist ein Ungewaschener, der um Nachtquartier bittet und dessen Zustand sich zusehends verschlechtert.“ Einmal hat er neben einer Viehtränke geschlafen, wo der Wasserhahn tropfte, ein andermal in einem Weinkeller mit Ratten und Mäusen. Ein Mann in Serbien gab ihm einfach seine Wohnungsschlüssel. Ob wir die unsrigen wohl einem unbekannten Serben anvertrauen würden, fragte er sich.
Ohne Rücksicht auf sich selbst an die eigenen Grenzen gehen? Der Mann will Erfahrungen machen. Dass aus seinem Wunsch dann vielgelesene Bücher wurden, war ein Glück. Er hätte weit weniger erlebt, zumal in der DDR, wenn er nicht Reporter geworden wäre. Wie sonst hätte er 1978 auf jene schwimmende Fischfabrik gelangen können, die ihm den Stoff für sein Buch „Fänger & Gefangene“ (1983) bot. Ein Anderer hätte sich dort im Status des Schreibenden eingerichtet, er aber wollte Arbeiter sein, ein „Stinker“ von vielen beim Schlachten der Fische. „2386 Stunden vor Labrador und anderswo“ – das bedeutete täglich zweimal sechs Stunden schuften unter Deck, in eisiger Kälte, mit offenen Wunden an den Händen von den Stacheln des Rotbarschs. Für ihn sei es „Scherzers bestes, sein rauestes und existenziell härtestes Buch“, sagt Schütt zu Beginn dieses Bandes – „in der Nussschale die zerbeulte sozialistische Welt, wie sie sich quält und müht“. Scherzer, gegen Ende des Gesprächs, scheint ihm zuzustimmen: „Hier ließ sich zeigen, wie idiotisch vieles war, wie Sein und Schein krachend auseinandergingen. Und außerdem konnte ich beschreiben, wie wenig glanzvoll die viel gepriesene sozialistische Arbeit war.“
Dennoch, „Dissident“ lässt er sich nicht nennen. Obwohl er an der Leipziger Fakultät für Journalistik 1965 exmatrikuliert wurde, hat er weiter an die DDR geglaubt. Seine Diplomarbeit war zurückgewiesen worden, weil seine Überlegungen zu Gestaltungsprinzipien in der Reportage mit den gerade im Jahr des 11. Plenums besonders eng gezogenen ideologischen Grenzen kollidierten. Unverdrossen ging er seines Weges, auch wenn er nicht zu NBI konnte, wie er wollte. Bis 1975 war er Reporter beim „Freien Wort“ in Suhl, danach freischaffender Autor.
1988 saß Hans-Dieter Schütt ihm als Chefredakteur der „Jungen Welt“ gegenüber. Sie verabredeten einen Vorabdruck aus der Reportage „Der Erste“, die Scherzer über Hans-Dieter Fritschler, den 1. SED-Kreissekretär von Bad Salzungen, geschrieben hatte. Das Vorhaben wurde vom Ersten Sekretär des FDJ Zentralrats, Eberhard Aurich, gestoppt. Und doch wurde der Band 1988 in der DDR ein Bestseller, was der Autor auch mit Gorbatschows „Glasnost“ in Zusammenhang bringt.
Apropos UdSSR: immer wieder hat es Landolf Scherzer dorthin gezogen, beginnend mit „Nahaufnahmen. Aus Sibirien und dem sowjetischen Orient“ (1977), „Auf Hoffnungssuche an der Wolga“ (1991), und selbst als er 1993 „Am Sarg der Sojus“ stand, fügte er hinzu „Die Hoffnung stirbt als Letztes“. Auch im Herbst 1989 ist er in der Sowjetunion gewesen. „Ich glaubte, der Sozialismus sei zu retten, und mit einer Reportage, … also durch wirkliche Anschauung meinte ich, einen winzigen Beitrag leisten zu können.“
„Aufschreiben, was ist“ – wenn Hans-Dieter Schütt die nüchterne Genauigkeit von Scherzers Texten lobt, so ist hinzuzufügen, dass darin immer auch ein leuchtender Funke lebt: Glaube, Hoffnung, Menschenliebe. „Der Beobachter hat ein Herz“, sagt Scherzer an einer Stelle des Gesprächs.
Wohin immer er in der Welt gelangte – nach Afrika („Bom dia, weißer Bruder“,1984), nach China („Madame Zhou und der Fahrradfriseur“, 2012), nach Griechenland („Stürzt die Götter vom Olymp“, 2014), nach Kuba („Buenos días, Kuba“, 2018) – kam zur Neugier auf andere Länder auch die „Sehnsucht nach Geschichten und Gedanken fremder Menschen“, wie er sagt. Nähe stellte sich da umso leichter her, weil auch er nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde. Solidarität: In einer FDJ-Brigade hat er in Moçambique gearbeitet, hat einen Hilfstransport nach Tschernobyl begleitet, bei der „Tafel“ mitangepackt. „Ein Arbeiter im Erfahrungsschmutz“, sagt Schütt. Als Schreibender so gar nicht abgehoben, das bewundere auch ich.
Wie Schütt in seinem Essay zu Beginn des Buches Scherzers „Schreibhaus“ in Dietzhausen bei Suhl porträtiert, sieht man es vor sich, so „umgrünt“ zwischen Wald, Hecken und Gestrüpp. „Was alles wächst hier?“, fragt er später. 17 Zeilen braucht die Antwort und enthält neben dem Nützlichen und Schönen gleichberechtigt auch das, was man gemeinhin Unkraut nennt. „Bitte nichts Gestutztes. Und sieh mal, die Risse, die mein Haus inzwischen hat …“ Wenn er mäht, dann mit der Sense. Und wenn er schreibt, dann erstmal mit der Hand.
„Morgens stehst du nackt draußen, im lauten Selbstgespräch, den Tag heiter und hoffend anrufend. Fingergymnastik gen Himmel – und zum Schluss wird das kalte Wasser aus der Schüssel über Kopf und Körper geschüttet. Bei jedem Wetter, und das übers gesamte Jahr.“ Hans-Dieter Schütt hat es beobachtet, wenn er dort übernachtete. Lesend erlebt man das spannungsvolle Zusammenspiel zweier unterschiedlicher Charaktere, die einander dennoch irgendwie nahe sind. Zwei Männer haben ein langes Gespräch geführt, und einer von ihnen hat es künstlerisch verdichtet, gemäß seinem Ideal, dass ein Interviewbuch ein Essay in zwei Stimmen ist.
Landolf Scherzer im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt: Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben. Aufbau Verlag, 281 S. m. Abbildungen, 22 €.