Vaterunser mit Allah
„Beirut für wilde Mädchen“ von Chaza Charafeddine
Von Irmtraud Gutschke
„Irgendwo in Afrika saß unter einem Schilfdach auf einem Holzstuhl ein hagerer Mann mit schwarzem Gesicht und dichtem weißem Haar. Auf seinem Schoß hatte er ein kleines Mädchen …“ So beginnt der Roman von Chaza Charafeddine – im Märchenton, weil der Alte der Kleinen von Wundern erzählt und weil die Vertrautheit sie stärkt. Das Kind spürt vage, dass zwischen der ärmlichen Hütte des Alten und den wohlhabenden Eltern eine Barriere ist. Und die Autorin, die hier aus ihrem Leben erzählt, bleibt ganz bei ihren damaligen Eindrücken. Ihr Staunen darüber überträgt sich wie ein Zauber.
Der Zauber: Der Alte hat der Kleinen ein weiches grünes Tuch geschenkt, das sie vor böser Magie schützen soll. Das Tuch hat sie verloren, als die Familie zuerst zur Großmutter nach Tyros und dann nach Beirut zog, wo die Sechsjährige in eine katholische Mädchenschule kommt. Aber auf irgendeine Weise scheint sie unangreifbar zu sein, auch weil ihrem klaren, erstaunten Blick vieles verborgen bleibt. Die Frage, warum sie, eine Muslimin, zu den Nonnen soll, hat sie sich gar nicht gestellt. Und die Briefe der Französischlehrerin an den Vater hält sie für Beschwerden über ihr Benehmen. In der christlichen Kapelle der Schule werden ihr die Heiligenbilder lebendig, und zu Hause vermischt sie das Vaterunser einfach mit Allah.
Was sie damals immer wieder malte, war ein Haus mit einem Baum und einem Brunnen. Dort würde sie wohnen und selbst entscheiden, was sie tun würde. Da bewunderte sie eine der Dienstbotinnen im Haus, die später wegen ihres „losen Mundwerks“ entlassen wurde. So wie diese Ägypterin wollte sie sein: „groß, imposant, frech, ohne Familie, Nonnen, Lehrerinnen oder sonst jemanden, der sich in deine Angelegenheiten einmischte“. So kam zur glücklichen Geborgenheit bei dem alten Mann eine zweite Kraftlinie hinzu: das Ziel, frei zu sein.
Der Erzählton wird nüchterner, entschiedener, während sie erwachsen wird. Noch durchschaut sie nicht, was am 14. April 1975 in Beirut geschah, als die ältere Schwester zu einer Demonstration ging, wo „Palästinenser raus“ gerufen wurde, obwohl der Vater den Kindern beigebracht hatte, „dass die Befreiung Palästinas nichts Geringeres als Sinn und Zweck unseres Lebens zu sein hatte!? Damals dachte ich, Palästina sei ein Dorf im Süden des Libanon, das die Feinde, die sich Israel nannten, meinem Großvater, meinem Vater und deren Freunden geraubt hatten …“ Viele Jahre später, in der Schweiz, würde sie sich mit einer Israelin anfreunden. Und beim anschließenden Aufenthalt in Deutschland würde sie sich wundern, dass manche Libanon mit Libyen verwechselten. Diesen zweiten Teil des Buches, 24 Seiten, hat die Autorin auf Deutsch verfasst, die ersten knapp 100 Seiten auf Hocharabisch, der Sprache des Korans und der offiziellen Medien, was für sie auch eine Fremdsprache war, aber ihrer Geschichte, so der Islamwissenschaftler Stefan Weidner, erst recht etwas „Unerhörtes“ gibt. Sein Nachwort ist ein zusätzlicher Grund, das Buch zur Hand zu nehmen, denn es zeigt Zusammenhänge auf. Dass das Osmanische Reich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zerfiel, England und Frankreich den Nahen Osten unter sich aufteilten, hat ja Folgen bis heute.
Die teils nur angedeuteten politischen Hintergründe machen das Buch spannend, zum Beispiel auch was den Einfluss des Iran betrifft. Denn zurückgekehrt nach Beirut, erlebt sie ihre Eltern als gläubige Schiiten, die sie vorher nicht gewesen waren. Befremden und Belustigung – überhaupt besteht der größte Reiz dieses Buches in der Art, wie sich im Text Stimmungen mischen. Vor allem aber in der heiteren Kraft, von der man bei der Lektüre angesteckt wird. Im Erzählen hat die Autorin gleichsam einen Schutzmantel um sich gebreitet, unter dem auch wir Platz finden können.
Chaza Charafeddine: Beirut für wilde Mädchen. Aus dem Arabischen von Günter Orth. Zweiter Teil original auf Deutsch. Nachwort Stefan Weidner. Edition Converso. 156 S., br., 18 €.