60 Jahre China-Erfahrung
Von Irmtraud Gutschke
1959 ist er das erste Mal als Leiter einer FDJ-Delegation in der Volksrepublik China gewesen. 2019 war sein bislang letzter Besuch, damals auf Einladung unter anderem der Chinesischen Akademie für Wissenschaftlichen Sozialismus. Dazwischen ist Hans Modrow, heute 93 Jahre alt, viele Male in politischer Mission in diesem fernen Land gewesen, über das heute manch einer leichtfertig urteilt, ohne es je mit eigenen Augen gesehen zu haben. „Brückenbauer“ – der Titel seines Buches bezeichnet auch sein eigenes politisches Credo, sich über Schwierigkeiten hinweg für Völkerverständigung einzusetzen und politische Meinungsverschiedenheiten möglichst zu überwinden.
Die gab es zwischenzeitlich bekanntlich zwischen China und der Sowjetunion, mit der die DDR Bündnis war. Schon 1962 prallten Mao und Chruschtschow aufeinander, weil die UdSSR im indisch-chiniesischen Grenzkonflikt neutral moderierte und man sich in China eine deutlichere Parteinahme wünschte. Vornehmlich „ideologisch motivierte Auseinandersetzungen“ nennt Hans Modrow, was so manchem DDR-Diplomaten in der Folge Kopfschmerzen bereitete. Was ich hier so allgemein benenne, ist im Buch so detailliert und konkret dargestellt, dass es selbst für Historiker eine Fundgrube ist.
Bei der Lektüre scheint es, dass die chinesische Seite damals eine rigidere antiimperialistische Politik verfolgte und deshalb die Zusammenarbeit mit der „revisionistischen Sowjetunion“ ablehnte. Schritt für Schritt, gestützt auf Dokumente ebenso wie auf persönliche Erfahrungen, folgt Hans Modrow den Beziehungen beider Länder, wobei die US-Aggression in Vietnam, die „proletarische Kulturrevolution“ in China 1966-1976 und der Grenzkrieg am Ussuri 1969 wichtige Etappen sind. Geradezu spektakulär ist das Kapitel über den Abschuss eines südkoreanischen Passagierflugzeugs über sowjetischem Territorium, der 1983 die Gemüter erhitzte. Was man heute darüber weiß, könnte durchaus für manche Leser neu sein.
Dass nach dem Untergang des europäischen Sozialismus die antikommunistische Propaganda weiterging und sich mehr denn je gegen China richtete, kann nicht verwundern. Immerhin behielt dort eine kommunistische Partei die Macht. „Eine chinesische Volksweisheit sagt: Wenn zwei Tiger im Tal kämpfen, ist es besser, auf dem berg zu sitzen und ihnen zuzusehen. Dieser vernünftige Appell gilt für Parteisoldaten, denen ich mich zurechne, nicht.“ So schreibt Hans Modrow gegen Ende des Buches, das ihn als China-Kenner und zugleich als leidenschaftlichen Diplomaten zeigt, der eben bis heute ein „Brückenbauer“ geblieben ist. Dazu passt die Kalligrafie von Sun Yat-sen (1866-1924), auf die der Blick fällt, wenn man das Buch aufschlägt. „Für das gemeinsame Wohl aller unter dem Himmel“ – das Credo des ersten Präsidenten der Republik China hat tiefe kulturelle Wurzeln und kann bis heute gelten.
Hans Modrow: Brückenbauer. Als sich Deutsche und Chinesen nahe kamen. Eine persönliche Rückschau. Verlag am Park, 234 S., br., 15 €.