Der grüne Zweig
„Klasse und Kampf“: 14 Erzählungen über Herkunft und Scham, Zorn und Stolz
Von Irmtraud Gutschke
Der Titel ist zugkräftig, trotzig, weil er auf etwas Verleugnetes verweist: dass es nämlich in diesem Land sehr wohl soziale Klassen gibt und dass sich Armut reproduziert. „Klasse und Kampf“ – das klingt wie ein Manifest. Doch ist dies kein Sachbuch. Vielmehr werden 14 sprachkräftige, packende Geschichten geboten, in denen eigenes Erleben der Autorinnen und Autoren künstlerisch verdichtet ist. Sie leuchten einen „toten Winkel der Gesellschaft“ aus, wie es Arno Frank in Bremsklotz nennt. Innerhalb von zehn Jahren hat er in zwölf schlecht bezahlten Jobs gearbeitet, um irgendwie auf einen „grünen Zweig“ zu kommen. „Paketdienst, Küchenhilfe, Erdhubarbeit, Tankstelle, Milchfabrik, den ganzen Quatsch. Einfach um nicht unterzugehen.“ Schließlich hat er so sein Studium finanziert.
Von der Klasse der öffentlich kaum Wahrgenommenen handelt das Buch. In einer Gesellschaft, die „Selbstverwirklichung“ zum höchsten Wert erklärt, gelten jene, die sich bloß irgendwie durchschlagen müssen, als sozial abgehängt. Ihre Plackerei wird geringgeschätzt; mit Hartz IV stempeln sie sich gänzlich zu Verlierern. Dass sie sich ihre Lage selbst zuzuschreiben hätten, gegen diesen Vorwurf, diesen Schmerz wehren sich die hier versammelten Texte. „Es gibt Kindheiten, die einem keine Chance lassen“, heißt es bei Lucy Fricke in Fischfabrik. „Ein einziger falscher Schritt, eine falsche Entscheidung und ich binde mir wieder die Plastikschürze um. Die Angst vor dem Absturz ist eine andere, wenn man von dort unten kommt.“ Dass man „die Schnauze halten und hart arbeiten“ müsse, war die Devise von Martin Beckers Vater (Sonnenbrand). Immerhin haben sie es in ein Reihenhaus geschafft, aber die Sparkasse kann die „geduldete Überziehung“ jederzeit aufkündigen, was am Ende geschieht. In „gebeugter Lauerstellung“ habe er sein Leben verbracht, schreibt Becker, als jemand, dem „Glück, Geld und Geltung“ nicht zustehen würden.
Pinar Karabulut, deren Eltern einst als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, spricht in Augenhöhe von einem „Kastensystem in den Köpfen“, das Migranten weit unten verortet. Vielleicht lebt die Ständegesellschaft ja wirklich untergründig fort. Dass der Sohn einer Hausangestellten in Bov Bjergs Schinkennudeln ein ungenießbares Gericht verzehrt, weil die Hausherrin stolz ist auf ihr Rezept, könnte man sich so ähnlich in einem Adelshaushalt von anno dazumal denken. Aus den Bediensteten von einst ist die „Service Class“ von heute geworden, doppelt geknechtet und entsolidarisiert, weil jeder angeblich durch zusätzliche Anstrengung den Aufstieg schaffen kann.
Da waren für mich die Texte von Francis Seeck Kohlenkeller und Clemens Meyer Antihelden besonders interessant, weil sie eine DDR-Perspektive einbringen. Seecks Mutter hatte in verschiedenen niedrig entlohnten Berufen gearbeitet, doch prekäre Lebensverhältnisse erst nach ihrer Ausreise in die BRD kennengelernt. „Wir waren reich an Bildung und arm an Einkommen und gesellschaftlicher Anerkennung… dass Bildungsabschlüsse in jedem Fall zu sozialem Aufstieg verhelfen, ist ein Klischee.“ Als Clemens Meyer 1997/98 in Leipzig als Hilfsarbeiter einen Dachstuhl abriss, überraschte ihn einer der älteren Zimmerleute „mit einer Hymne an Unterm Rad von Hesse“. Immer wieder seien ihm „belesene Container-Fahrer, literaturinteressierte Zimmerleute, Hilfsarbeiter, die auf Kerouacs Unterwegs schworen, begegnet. Waren das die Ausläufer der DDR, als nur die Reisen in die Literatur die Welt eröffneten?“. Auch damals hatte es „Trinker, Kranke, Verwahrloste, Schrottsammler“ gegeben, aber sie waren „integriert und eingebunden, wie es schien“. In den letzten Jahren der DDR, so Meyers Eindruck, setzte eine Verrohung ein.
Die verstärkte sich nach dem Beitritt zu einem Staatswesen, in dem keinerlei Gleichheitsideal mehr galt, in dem jeder sich selbst der nächste zu sein hatte. Welche subtilen psychologischen Mechanismen da wirken, zeigt Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, in Kolbenfresser. Einst schämte sie sich, dass die Mutter nicht die Markenprodukte, sondern die billigeren Kopien von Aldi kaufte. Inzwischen, in ihrem Gebrauchtwagen sitzend, will die Ich-Erzählerin Minderwertigkeitsgefühle trotzig hinter sich lassen. Nun ist sie eine, „die innerlich überholt, nicht äußerlich, und die ihr diffuses Fremdsein in der Mittelklasse/ Oberklasse/ Luxusklasse lernt, als Qualm aus dem Auspuff zu begreifen“.
Viele, die in diesem Buch zu Wort kommen, haben sich in der Öffentlichkeit bereits einen Namen gemacht und es dabei schwerer gehabt als andere, die bessere Startbedingungen hatten. Da ist ein Zorn zurückgeblieben, der unerträglich wird, wenn sich die Wünsche nicht erfüllen, wenn man zum Licht hinaufklettern will und sich gleichsam an einer geschlossenen Luke den Kopf einrennt. Voller Frust und Empörung ist der Text Klassensprecher von Sharon Dodua Otoo, geboren 1972 in London, die 2016 den Bachmannpreis erhielt und jetzt mit „Adas Raum“ ihren ersten Roman veröffentlichte. Als „freie Kunstschaffende“ und Mutter von drei Kindern macht sie sich zur Sprecherin der Vielen, denen durch den Corona-Lockdown die Veranstaltungen storniert wurden. Der Erwartung, sie solle flexibel in ihren Honorarvorstellungen sein, widerspricht sie vehement. Hartz IV beantragen? Sie könne sich kaum Entwürdigenderes vorstellen. „Über Geld nicht reden zu müssen, ist ein Privileg, das sich viele von uns einfach nicht leisten können.“
Recht hat sie, doch wer soll ihr das Recht verleihen, den Platz zu besetzen, den sie will? „Freie Kunstschaffende“ gibt es viele. Die Kulturinstitutionen, von denen sie leben, werden nach einem Ende des Lockdowns womöglich dezimiert und nicht reicher an Mitteln sein. Dagegen wirkt der Sänger Schorsch Kamerun schon abgebrüht. In der Pose des Punks setzt er in Selbstetablierung den „Klettermöglichkeiten hinauf zum Sonnendeck oder hinab zum Maschinenraum“ einen „gegenkulturellen, radikalen Nihilismus“ entgegen. „Alle Möglichkeiten haben weiterhin nicht alle.“ – Wohl wahr.
Es sind ja in diesem Band Schreibende versammelt, die es aus prekärer Herkunft in die neue akademische Mittelklasse geschafft haben, wo oft auch kein Reichtum wohnt, dafür aber der Genuss, den einem schöpferische Arbeit gibt. Wer da bloß für sich selber kämpft, ist dieser Konkurrenzgesellschaft konform. Der Stolz, die eigene Herkunft nicht zu verraten, die Menschlichkeit, auf niemanden herabzublicken, weisen darüber hinaus.
Katja Oskamp, 1970 in Leipzig geboren, hat eines Tages die Vorstellung aufgegeben, ihren Lebensunterhalt als Schriftstellerin zu verdienen. Auch nach dem Erfolg ihres Buches „Marzahn, mon amour“ blieb sie Fußpflegerin. So sieht man sie in Stammstrecke wieder über fremde, geschundene Füße gebeugt. Der Mann, dem sie gehören, hat in einem Kinderheim erst mit sechs Jahren laufen gelernt. Die Würde, sich nicht über andere zu erheben – das ist es, was diese Gesellschaft transzendiert. Wie Anke Stelling in Plastikteile sich zu ihrer sterbenden Schwiegermutter ins Bett legt, zu dieser „ausgebeuteten, vorgealterten, krebskranken ehemaligen Pflegeperson“, ist mehr als eine Geste. „Bist du stolz auf mich?“ – Ja sicher, Anke.“ – Findest du, ich hab’s geschafft? – Sie hebt mit geschlossenen Augen die Brauen.“
So bleibt auch Christian Baron, seit „Ein Mann seiner Klasse“ ein preisgekrönter Schriftsteller, in Fangfragen jenen Menschen verbunden, mit denen er aufgewachsen ist. Von seinem geliebten Großvater Willy muss er Abschied nehmen. Neun seiner „Lieblingsmenschen“ begleiten den alten Mann beim Sterben. Seiner Tante Juli, die ihm wie eine Mutter war, wird er nun helfen müssen. Denn: „Wie zur Hölle sollte sie diese Scheißbeerdigung bezahlen?“ Was heißt hier Selbstverwirklichung? Sei ein Mensch!
Dass die beiden Herausgeber, Christian Baron und Maria Barankow, Totenwaschung von Kübra Gümüsay an den Schluss des Bandes setzten, habe ich als ein Bekenntnis empfunden zu Werten, die bleibend sind und nicht verloren gehen dürfen. Can und Sevgi, die Enkel von Adem, sollten es einmal besser haben als ihre Eltern und Großeltern. Nun wollten die Jungen mit ihrem Erfolg nur noch sie selber sein. Großvater Adem aber hatte zu seinem Sohn Ismail von Pflicht gesprochen. „Übernimmt einer die Last, die Verantwortung, gewinnen alle.“
Auf wohltuende Weise wird da eine Tradition beschworen, die dem herrschenden Egoismus entgegensteht: Gemeinschaftlichkeit, im Neoliberalismus mit Füßen getreten. Es wirft einen Schatten auf dieses reiche Land, wenn Menschen in Armut verharren müssen. Sie brauchen eine Verbesserung ihrer Lage jetzt – materiell und im Sinne sozialer Anerkennung. Auch wenn diese Verbesserung den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit im Grundsatz nicht lösen würde, von dem im Vorwort des Bandes die Rede ist, läge darin eine Forderung an die Politik und ein Weg sogar, durch einen Paradigmenwechsel der Krise des Kapitalismus die Spitze abzubrechen.
Maria Barankow, Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Claassen Verlag, 224 S., geb., 20 €.