Der Wunsch, die Wahrheit
„Hana“ – Jurij Koch erzählt von einer katholischen Jüdin in einem sorbischen Dorf
Von Irmtraud Gutschke
Voller Spannung erwartete ich das eine, doch etwas anderes geschieht – und ich konnte dem Autor nur dankbar sein.
Mit „Jüdin Hana“, erschienen 1963 in sorbischer Sprache, hat der literarische Weg von Jurij Koch begonnen. Dass er sich nach über 30 Büchern auf Deutsch noch einmal dem Text zuwandte, war einem Theologen aus Tübingen zu verdanken. Hilger Weisweiler hatte autodidaktisch Sorbisch gelernt und Jurij Koch mit einer Übersetzung seines frühen Werkes überrascht. Der las es nun wieder, fand es „sentimental und pathetisch“ und bekam Lust, es neu zu schreiben. Der Verlag hat ein Nachwort des Historikers Hermann Simon beigefügt, der von 1988 bis 2015 Direktor der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ gewesen ist. Von ihm erfährt man historische Hintergründe der Geschichte, die sich im Dorf Horka ereignete.
Dort, in der katholischen Oberlausitz, ist Jurij Koch 1936 geboren worden. 1943 war er dabei, als sich seine Mutter flüsternd mit einer Nachbarin unterhielt und dabei immer wieder zu „Schierzens Gehöft“ hinüberschaute, „einem ärmlichen halbbäuerlichen Dreiseitenhof, dessen vorderes Wohnhaus mit Stroh gedeckt war. Innen am Fenster flackerte eine Kerze.“ Jahre später, als der Weltkrieg zuende war, ist ihm eingefallen, dass just an jenem Abend „eine junge Frau, Hana Schierz, sechsundzwanzig Jahre alt, knieend vor dem Hausaltar gebetet haben könnte …“
Auch wenn man von diesem Gebet noch nichts weiß, die Spannung des Textes kommt aus der Hoffnung, dass sich alles zum Guten fügen möge. Hanas Freund Bosćij verspricht ihr, sie zu beschützen vor jeder Gefahr. Und sie ist ohne Angst, wobei der Autor in atmosphärisch dichten Szenen spüren lässt, wie sich etwas über ihr zusammenbraut. Seit ihrer Geburt hatte sie in Horka gelebt, wobei wohl niemandem verborgen blieb, dass sie nicht die Tochter von Maria Schierz, sondern ihrer früheren Dienstherrin war. Um ihr uneheliches Kind zur Welt zu bringen, war Gertrude Kreidl im August 1918 nach Horka geflüchtet. Wenig später kehrte sie nach Dresden zurück, zu ihren jüdischen Eltern, die dort ein Textilgeschäft führten. Bald darauf heiratete sie. Annemarie Kreidl wird von Maria Schierz adoptiert, heißt fortan Hana, wird katholisch getauft und konfirmiert, trägt sorbische Tracht.
Wie konnte ich denn hoffen, dass ihre jüdische Herkunft nicht aktenkundig war? Tatsächlich hat Hanas Adoptivvater, Mitglied der NSDAP und Anwärter auf das Amt des Bürgermeisters, die Hand über sie gehalten – bis zu seinem Tod … Wie trügerisch die Ruhe in Horka ist, unterschwellig lässt Jurij Koch es spüren. Man gab sich normal und schaute weg. Als Hana in aller Öffentlichkeit durch den Polizeiwachtmeister informiert wurde, dass Tanzveranstaltungen ihr verboten sind ebenso wie das Tragen sorbischer Tracht, wurde es zur Kenntnis genommen. Böse Gerüchte über sie machten die Runde (wurden gestreut?). Genau genommen läuft in der Erzählung alles auf jenen Morgen zu, als sie sich im Juni 1943 mit ihrem Deportationsbescheid in Dresden einzufinden hatte. Kurz zuvor hatte Bosćij den Einberufungsbefehl erhalten. Er versuchte noch, die Freundin zu retten, aber es misslang. Die Familie ihrer leiblichen Mutter hat noch in die Schweiz entkommen können. Von Hana verliert sich ihre Spur…
Jurij Kochs frühe Erzählung ist in der DDR sorbische Schullektüre gewesen und hat, wie er sagt, auch in Horka Resonanz gefunden. Inzwischen gibt es dort vor ihrem Geburtshaus einen Stolperstein für „Annemarie Kreidl adoptierte Hana Šěrcec“, als Aufforderung zum Nachdenken darüber, wie der Völkermord der Nazis ermöglicht worden ist. Die sich als deutsche „Herrenmenschen“ sahen, haben nicht nur im eigenen Reich, sondern in besetzten Ländern Osteuropas – Polen (dazu erschien unlängst das erschütternde Buch „Die Juden von Jedwabne“), in Litauen, Lettland, der Ukraine, Ungarn „willige Vollstrecker“ gefunden. Die mag es in Horka nicht gegeben haben, aber man ließ das Unrecht geschehen. Dabei waren die Sorben „als Wendisch sprechende Deutsche“ schon dadurch diskriminiert, dass ihre Sprache ins Private verbannt war. „Hier wird deutsch gesprochen“, sagt Polizeiwachtmeister Beier, der in Jurij Kochs Erzählung zu einer Skatrunde in der Kneipe eingeladen hat. Und Feliks, Sohn des Bauern Jeńka, fährt dem viel älteren Brucharbeiter Krawc über den Mund, der ohnehin als Zweifler gilt: „Hier sitzen wir als Deutsche zusammen.“ Von Himmlers Plänen, die „Wenden“ nach Osten umzusiedeln, ahnte er nichts. Wenig später wird Krawc im Steinbruch tot aufgefunden.
Wunsch und Wahrheit. Meine Hoffnung beim Lesen, Hana könnte gerettet werden, weil die Sorben als unterdrückte Minderheit mit der Katholikin solidarisch sein würden, verstand der Autor wohl. Aber die Sorben gibt es nicht, ebenso wenig wie die Polen oder die Deutschen, sagte er in unserem Gespräch. So lässt uns spannungsvolle Lektüre wieder einmal mit dem beunruhigenden Gedanken allein, wie leicht Menschen demoralisiert werden können in einem Regime der Angst.
Jurij Koch: Hana. Eine jüdisch-sorbische Erzählung. Mit einem Nachwort von Hermann Simon. Verlag Hentrich & Hentrich, 119 S., geb., 16 €.