Respekt vor dem Fremden
Johann Hinrich Claussen führt zu versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen
Von Irmtraud Gutschke
Die Stahlskulptur auf dem Betlehemkirchplatz in Berlin habe ich schon mal gesehen, doch in der Eile des Vorübergehens kaum bedacht, was es mit der Betlehemkirche auf sich hat. Sie war ja nicht die einzige, die im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und dann nicht wieder aufgebaut wurde. In der DDR-Staatsführung, atheistisch eingestellt, gab es für Kirchenbauten kaum Interesse; Baukapazitäten wurden dringender für Wohnungen benötigt. So wurde die Ruine 1963 „nachgesprengt“. Wie Johann Hinrich Claussen weiter erzählt, ist Anfang des 19. Jahrhunderts in der 1737 errichteten Betlehemkirche die erste Missionsschule Deutschlands gegründet worden. Dort wurde auch Karl Gützlaff ausgebildet, den es mit enthusiastischer Abenteuerlust nach Asien zog. Er lernte Chinesisch und empfand besondere Nähe zu diesem Land. Einen Skandal soll er ausgelöst haben, als er einen Vortrag in der preußischen Hauptstadt mit einem Fürbittengebet beendete, in das er das chinesische Volk und dessen Kaiser einbezog. Nicht verschwiegen wird auch die zwiespältige Rolle, die Gützlaff im Ersten Opiumkrieg der Briten gegen die Chinesen spielte. Da geht Johann Hinrich Claussen sogar so weit, die damalige protestantische Missionsarbeit mit heutigen NGOs zu vergleichen, welche mit demokratisch fortschrittlichen Positionen unterschwellig auch machtpolitische Interessen bedienen.
Packende Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite. Zu über 60 Orten rund um die Welt nimmt uns der Autor mit, beginnend mit Vallecito in Argentinien, wo aus einer Legende ein bis heute lebendiger Kult erwuchs. „Diffunta Correa“, die verstorbene Correa war eine einfache Bauersfrau gewesen. Während des Bürgerkriegs 1841 zur Flucht gezwungen, ist sie in der Wüste verdurstet, aber ihr neugeborenes Kind hatte weiter aus ihrer Brust getrunken und überlebt. Nun stellt man ihr zu Ehren Wasserflaschen an den Straßenrand als Dank für ihre Wundertaten, von denen es offenbar viele gibt. „Nach größeren Gnadenerweisen hat man sie zu besuchen.“ Auf überaus lebendige Weise beschreibt Claussen den Wallfahrtsort, als „argentinisches Mekka“. „Die Spannung zu den biblischen Wundergeschichten scheinen“ die Menschen dort nicht wahrzunehmen. „Es dreht sich alles um Kraft und Nähe.“
So kommt man beim Lesen aus dem Staunen nicht heraus, wie sich der eigene Begriff von Glauben erweitert. Manches ist skurril und anderes höchst bedenkenswert. Von einer Täufergemeinschaft auf einem Schweizer Berg erfährt man und von der größten Wallfahrt der Muslime in Kerbala, Irak. Nach Allahabad in Indien kommen zu Spitzenzeiten hundert Millionen Hindus, um am Zusammenfluss von Ganges und Yamuna ein heiliges Bad zu nehmen. Altslawisches Neuheidentum wird in Janino bei St. Petersburg lebendig gehalten. Im nächsten Kapitel wird von der russischen Ost-West-Friedenskirche im Münchner Olympiapark erzählt. So hat der Autor immer wieder gern „einem seltsamen religiösen Ort aus dem deutschsprachigen Raum… ein Pendant aus der weiten Welt gegenübergestellt“.
Wo ist die Grenze zu ziehen zwischen Glauben und Irrglauben? Das pompöse Mausoleum, das „Palais idéal“, das sich ein französischer Postbote 1912 in seinen Garten baute und die vermeintliche „Tür zum ewigen Leben“ in Scottsdale, USA, wo man sich einfrieren lassen kann, um in der Zukunft wieder aufgetaut zu werden – lässt sich eine (wahrscheinlich im Gegensatz bestehende) Beziehung zwischen ihnen denken?
Das „himmlischen Neuen Jerusalem“ in Nkamba, Kongo, wurde von Simon Kimbangu gegründet, der sich als neuer schwarzer Messias verstand, nachdem er eine Frau durch Handauflegen geheilt hatte. Er und seine Jünger nahmen den christlichen Glauben der Weißen an, um daraus etwas eigenes zu machen. Die gigantische Kirche mit 37 000 Sitzplätzen gibt es bis heute. Claussen beschreibt, wie sich drei Brüder dort als „regelrechte Dreieinigkeit“ gerieren und zitiert eines der Kirchenlieder: „Du, schwarzer Mensch, Gott hat dich von Anfang an geliebt“.
Als er im St.-Michaels-Heim in Berlin-Grunewald nächtigte, das heute ein Gästehaus beherbergt, fühlte er sich von einer besonderen Atmosphäre umfangen und interessierte sich für den Heiler und Prediger Joseph Weißenberg. Der hat nach dem Ersten Weltkrieg dort eine Mustersiedlung für etwa 600 Menschen gegründet, eine „Friedensstadt“. 1935 wurde seine Kirche verboten; er wurde verhaftet und starb 1941 in einer psychiatrischen Anstalt. In „Friedensstadt“ wurde ein Außenlager des KZ Sachsenhausen aufgebaut. Doch inzwischen gibt es die Johannische Kirche wieder, Joseph Weißenbergs Erbe ist lebendig.
Ob es eine „Sekte“ gewesen sei? Dass sich Claussen von solch abwertendem Begriff abgrenzt, ist mehr als nur angenehm. Beim Lesen habe ich es als regelrecht befreiend empfunden, wie er in seinen packenden Erzählungen jegliche verurteilende Besserwisserei meidet, wie er, seines evangelisch-lutherischen Glaubens gewiss, frei von Hochmut auf Fremdes zugehen kann. Respekt angesichts der Vielfalt dessen, woran Menschen glauben – das ist die grundlegende Aussage dieses Buches. Und man kann sich nur freuen, dass Johann Hinrich Claussen in diesem Sinne nicht nur als Theologe und Autor zahlreicher Bücher, sondern auch in seinem Amt als Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland öffentlich wirken kann.
Johann Hinrich Claussen: Die seltsamsten Orte der Religionen. Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen. Mit Illustrationen von Lukas Wossagk. C. H. Beck, 238 S., geb., 20 €.