Sehnsucht nach Zugehörigkeit
Leila Aboulela provoziert mit ihrem Roman über Migration, Religion und Selbstbestimmung
Von Irmtraud Gutschke
Eine „überraschende, provokative Emanzipationsgeschichte“, urteilt der Verlag. Dass Leila Aboulela damit einen „Sturm in der englischen Presse“ entfachte, lässt sich denken, weil ihr Roman zu großen Teilen in London spielt. Das Titelbild zeigt eine junge Frau, die durch ihre Kleidung als Muslimin zu erkennen ist. So wie Nadschwa, die zum Haus ihrer neuen Arbeitgeberin eilt. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal anderer Leute Kinder hüten, putzen, bügeln und einen Hidschab tragen würde. – So wie unsereins es sich vielleicht nicht vorstellt, dass im islamischen Sudan junge Mädchen in Miniröcken und engen Blusen in ihren eigenen Autos zur Universität fahren. Nadschwa hat zu diesem westlichen, kosmopolitischen Milieu gehört, als sie noch in Khartum wohnte. Die sechs Hausangestellten ihrer Familie betrachtete sie damals so, wie sie selber jetzt angesehen wird: von oben herab.
In Rückblenden fächert die Autorin ein Leben auf: aus der Ich-Perspektive, so dass man das Gefühl hat, sie würde es aus eigener Erfahrung kennen. Unter Migranten stellt man sich gemeinhin Menschen vor, die vor Krieg und Armut fliehen. Nadschwas Famlie hat sich Hals über Kopf nach England abgesetzt, weil der Vater nach dem Militärputsch von 1989 wegen Korruption verhaftet wurde. Sie kamen per Flugzeug, aber da ihre Konten in der Heimat eingefroren waren, mussten sie sich auf ein bescheideneres Leben einstellen. Die Mutter starb, der Bruder kam wegen Drogendealerei ins Gefängnis. Es ist zunächst nicht die übliche Migrantengeschichte, wird aber zu einer weit verbreiteten, als Nadschwa die Unmöglichkeit erkennt, je wieder nach oben zu kommen, nachdem sie „abgerutscht“ ist. „Ich bin gesunken, tief gesunken.“
„Schau …, hier kennt keiner unseren Hintergrund, keiner weiß, wessen Tochter du bist, oder kennt meine politischen Ansichten. Wir sind beide Nigger, und somit gleich.“ Das sagt Anwar, der bewunderte Kommilitone aus Khartum, der eine sozialistische Revolution wollte für Sudan, stattdessen aber verhaftet und gefoltert wurde. Nun ist er ebenfalls in London, sie kommen zusammen, können einander aber nicht wirklich verstehen. Die soziale Herkunft trennt sie weiterhin. Nadschwa fühlt mit exilierten Prinzessinnen – „die Töchter des Schahs, die Töchter des verstorbenen Königs von Ägypten, die Nachfahrinnen des osmanischen Sultans“… Sie „geisterten alle durch Europa und wussten um ihr königliches Geblüt, aber es spielte keine Rolle, gar keine Rolle mehr.“
Schwierig. Soll unsereins, universellen Menschenrechten verpflichtet, derlei Standesunterschiede würdigen ebenso wie jene ethnischen Differenzierungen, auf die Migranten womöglich Wert legen? Ist es ein oberflächlicher, gar postkolonialer Blick, wenn wir es nicht tun? Und wie ist es mit unserer säkularen Lebensweise, die auch für Nadschwa in ihrer früheren Heimat eine Selbstverständlichkeit war und die sie in London entschlossen ablegt? Ist es „Emanzipation“ zu nennen, dass sie dem jungen Mann, den sie liebt, anbietet, seine Zweitfrau zu werden, weil sie keine Kinder bekommen kann? Und dass sie ihn schließlich verlässt, weil seine Mutter sie darum bittet und ihr Geld anbietet? Sie tut es um seinetwillen, damit er studieren und sich ganz auf seine Zukunft konzentrieren kann. Mit dem Geld will sie nun nicht etwa ihr Studium fortsetzen, sondern eine Hadsch, eine Pilgerfahrt nach Mekka, unternehmen.
Weil wir ganz an ihrer Seite sind, versuchen wir sie zu verstehen, so wie die Autorin es will. Vereinsamt und niedergedrückt, wie sie war, konnte ihr die Moschee zur Zuflucht werden. Ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit wird gestillt durch die Religion. Wäre das auch so gewesen wäre, wenn die Familie nicht ins Elend abgerutscht wäre? Womöglich nicht. Der westliche Lebensstil stellt sich als Problem heraus für Menschen, denen dafür die Mittel fehlen. Der Islam kann ihnen geben, was sie vermissen: Würde und sozialen Zusammenhalt. Doch ist das wirklich alles?
Leila Aboulela, 1964 in Kairo geboren und als Tochter einer ägyptischen Mutter und eines sudanesischen Vaters in Khartum aufgewachsen, hat in London Ökonomie und Politikwissenschaft studiert und lebt jetzt als Autorin von fünf Romanen und zwei Erzählungsbänden in Aberdeen, Schottland. Das Porträtfoto im Buch zeigt sie in muslimischer Kleidung. Abgesehen davon, dass sie womöglich Teile ihrer eigenen Biographie erzählt, sie will verständlich zu machen, was eine islamische Lebensweise ist. Der Sinn des Fastens während des Ramadan, der Reiz, sich in der Öffentlichkeit zu verhüllen und im vertrauten Kreis der Frauen den Hidschab abzulegen, diese weibliche Nähe, die Männer ausschließt, das Ritual des Gebets, seine tröstende, befreiende Schönheit. Sie will dieser Identität auf den Grund gehen, nicht nur im kulturellen und politischen Sinne, sondern auch dem, was „Geschlecht, Nationalität, Klasse und Rasse“ transzendiert. So wie Nadschwa versucht, zum Kern des Islam vorzudringen, entfernt sie sich von uns und ruft uns zugleich, ihr zu folgen.
Das ist die Herausforderung dieses Buches, das insgesamt der Liebe gilt: zu den Eltern, dem Bruder, den Kindern, zu den Freundinnen und zu zwei Männern. Als eine Beladene wird Nadschwa auf Pilgerfahrt gehen. Und womöglich wirklich zurückkommen, als sei sie befreit.
Leila Aboulela: Minarett. Roman. Aus dem Englischen von Irma Wehrli. Lenos Verlag, 340 S., geb., 24,90 €.