Etwas entschwindet – und bleibt
Gerhard Wolf erinnert sich in „Herzenssache“ an „unvergessliche Begegnungen“
Von Irmtraud Gutschke
Die von ihm verfassten und herausgegebenen Bücher zusammengenommen, hat Gerhard Wolf wohl kaum weniger veröffentlicht als seine Gattin. Doch damit ist seine Lebensleistung noch nicht benannt. Den Spruch, dass hinter einem starken Mann immer eine starke Frau steht, kann man in Bezug auf dieses Paar durchaus umdrehen. Ohne ihren Gerhard wäre Christa Wolf womöglich nicht geworden, die sie war. Das begann schon 1951, als sie geheiratet hatten und das erste Kind sich ankündigte. Beide waren sie Studenten, einer musste Geld verdienen. Da unterbrach er sein Studium und ging zum Rundfunk. Als sie 1953 ihr Diplom verteidigt hatte und beim Schriftstellerverband zu arbeiten begann, studierte er weiter. Immer stand er ihr zur Seite. Für alles, was sie schrieb, war er der erste Leser. Und umgekehrt.
Sie ist ja nun schon neun Jahre tot, und er wurde vor kurzem 92. „Herzenssache“ ist für beide ihre persönliche Bindung ebenso wie die literarische Arbeit gewesen. Von einer Herzenssache sprach schon die Schriftstellerin Rahel Varnhagen (1777-1833), die in Berlin einen literarischen Salon betrieb. Die Biographie von Carola Stern (1925-2006) hieß dann auch „Der Text meines Herzens“. Gerhard Wolfs Rede zur Buchpremiere 1994 in Berlin wird hier erstmals veröffentlicht. Andere Texte sind verstreut in Zeitschriften schon einmal erschienen. Man liest sie neu. Manche entstanden zu zweit wie das „Gespräch im Hause Wolf über den in Vers und Prosa sowohl als auch stückweis anwesenden Volker Braun“ und das „Nicht beendete Gespräch über Stephan Hermlin“ (1915-1997), das noch zu seinen Lebzeiten geführt wurde. Von unstillbarer „Sehnsucht nach Vollkommenheit“ ist in Bezug auf Hermlin die Rede, gepaart mit Verletzbarkeit. Da zitieren sie einander Zeilen aus seinen Gedichten: „Die Zeit der Wunder ist vorbei“, „Und in der Dämmrung sind die Katzen wieder grau“, „Die Worte warten. Keiner spricht sie aus.“ Das fiel mir in die Seele – und Trauer ergriff mich wieder einmal. Ich hatte Stephan Hermlin noch etwas fragen wollen, doch dann war es zu spät.
So sind viele Schriftsteller und Künstler sind in diesem Band vereint, die in der Erinnerung weiter leben wollen: Irmtraud Morgner (1933-1990) und Stefan Heym (1913-2001), Walter Jens (1923-2013) und Günter de Bruyn (1926-2020), Otl Aicher (1922-1991), der die Schrift „rotis“ für Gerhard Wolfs Verlag Janus Press entwarf, und Carlfriedrich Claus (1930-1998), der dort veröffentlichte, die Künstlerinnen Christa Cremer (1921-2010) und Nuria Quevedo, jetzt 82 Jahre alt, die von sich sagt: „Malen ist meine Art zu denken – zeichnend weiß die Hand mehr als der Kopf.“ Lauter bekannte Namen, aber einige mir dennoch unbekannt. So die Grafikerin Barbara Beisinghoff, 75 inzwischen, die Christa und Gerhard Wolf für eine Ausstellung in der von ihnen ins Leben gerufenen Galerie Forum Amalienpark gewinnen konnten. Frei nach Brechts Kinderhymne ist der Aufsatz über sie gegliedert in Anmut, Mühe, Leidenschaft, Verstand. Der jetzt 98-jährigen Maria Sommer stehen die Wolfs sehr nahe. Seit 1949 leitet sie den Kiepenheuer Bühnenvertrieb und hat mit feinem Gespür für genuine Begabungen Generationen von Autoren von Grass bis Tabori für Theater, Funk, Film und Fernsehen vertreten. „Sie macht ihre Herzenssache zum Beruf“, hat Gerhard Wolf in einer hier abgedruckten Laudatio von 2012 gesagt, als sie die Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille erhielt. Nicht fehlen durfte Louis Fürnberg (1909-1957), mit dem er sich lebenslang beschäftigt hat; schon 1959 veröffentlichte er ein Buch über ihn. Unbedingt gehörte auch Brigitte Reimann (1933-1973) in dieses Memorial, hat er doch miterlebt, wie seine Frau ihr verbunden war. Die hier abgedruckte Rede über diese Freundschaft hielt er kurz nach Christa Wolfs Tod… Alle seine Bekannten waren auch die ihren – und umgekehrt. So hat er über die „unvergesslichen Begegnungen“ auch im Gedenken an sie geschrieben.
Mit dem letzten, umfangreichsten Text des Bandes greift er sogar einen Stoff auf, den sie hatte verarbeiten wollen. Es geht um die tschechische Jüdin Franci Faktorová (1926-1997), die Mutter seines Schwiegersohns Jan Faktor und Übersetzerin mehrerer Bücher von Christa Wolf. Als er sie 1958 in der Prager Literaturzeitschrift „Literárni noviny“ kennenlernte, war ihm schon die Nummer auf ihrem Arm aufgefallen. Später bei einem ihrer Besuche hatte sie von Theresienstadt und Auschwitz erzählt, Details, die geradezu danach „riefen“ überliefert zu werden. Immer wieder haben sie Zeit miteinander verbracht, durch sie auch Eduard Goldstücker (1913-2000) kennengelernt, der 1963 die berühmte Kafka-Konferenz in Liblice organisierte, die als Vorbereitung des Prager Frühlings gilt. Mit dieser Reformbewegung hatten Franci Faktorová wie auch Christa und Gerhard Wolf große Hoffnungen verbunden. Ein erneuerter Sozialismus? Oder wäre es zum Sieg der anderen Seite geworden? Die Niederschlagung des Prager Frühlings ist jedenfalls für viele, die daran glaubten, traumatisch gewesen. Franci Faktorová verlor ihre Anstellung, und die Angstträume aus KZ-Zeiten kamen wieder. Christa und Gerhard Wolf wurden ab 1968 vom MfS als „Operativer Vorgang“ unter dem Decknamen „Doppelzüngler“ erfasst. „Christa hatte immer den Plan, über Franci zu schreiben“, erklärt Gerhard Wolf. Unter dem Titel „Visalaja“ habe sie an einem Text gearbeitet, „der Tagebuchseiten und Stellen aus ihrer beider Briefwechsel enthielt und der leider – vermutlich weil ihr alles zu nah stand und nie eine Form fand, die ihr angemessen erschien – Fragment geblieben ist. Aber ich kann hier authentisch daraus zitieren.“ Liebesdienste bis zuletzt.
Herzenssache. Etwas, das einem ernst ist. Diese Lebens- und Kunstauffassung ist das Verbindende zwischen Gerhard Wolf und denen, über die er hier spricht. Sie mochte dort einen besseren Boden gehabt haben, wo nicht alles vom Gelde diktiert war. Aber es gab sie schon immer, und sie wird bleiben. Etwas entschwindet und erneuert sich. Wie gut, dass der Aufbau Verlag dieses Erbe bewahrt.
Gerhard Wolf: Herzenssache. Memorial – unvergessliche Begegnungen. Aufbau Verlag, 285 S. m. 20 Abb., geb., 22 €.