Das letzte Blatt am Baum
„Die Sensibilität entsteht aus den Worten. Was man nicht benennen kann, kann man nicht spüren“, schreibt Ryoko Sekiguchi. Ist das so? Gibt es nicht auch ein Empfinden, das nicht zur Sprache kommt? Für die 1970 in Japan gebürtige und seit 1997 in Paris lebende Autorin ist es ohne Zweifel die Muttersprache, die ihr ein feineres Empfinden für ihren Platz in der fremden Realität gibt. Dass der traditionelle japanische Kalender 24 Jahreszeiten zählt oder sogar 72, das heißt doch wirklich, dass es in dieser Kultur eine ganz besondere Sensibilität für die Jahreszeiten gibt, die man erleben, auch schmecken soll, statt ihnen zu entfliehen. Wenn wir zum Beispiel das ganze Jahr frische Erdbeeren essen können, ist das ein Luxus. Aber ist das auch gut? Abgesehen von dem Aufwand, der dafür nötig ist, sollten wir uns nicht lieber darauf einlassen, was momentan wächst und geerntet werden kann? Geht uns Verzückung verloren, wenn alles verfügbar ist?
Aber solche Gedanken werden von der Autorin nur angetippt. Es ist dies keines der üblichen Mahn- und Warnbücher und auch kein Ratgeber für ein achtsames Leben. Wobei die Achtsamkeit dem Text auf eine selbstverständliche Weise innewohnt. Wie Ryoko Sekiguchi beim Beobachten und Schreiben in sich hineinhorcht, entsteht ein großer Gedankenbogen – von den Jahreszeiten mit ihren Pflanzen und Düften, der poetischen Kunst des Haiku und den kulinarischen Genüssen der japanischen Küche bis hin zum Grundproblem menschlicher Existenz, dass wir uns „in jedem Augenblick am Kreuzungspunkt… multipler Zeiten“ befinden, „die uns mal mitreißen, mal eintauchen lassen“. Das Bewusstsein unserer linearen Zeit steht ja im Gegensatz zur zyklischen Zeitlichkeit der uns umgebenden Natur, ist Lust und Tragik gleichermaßen.
Das drückt sich für die Autorin besonders deutlich im Wort „nagori“ aus. „Die Sehnsucht nach der von uns gegangenen Jahreszeit“ – der Untertitel des Buches sagt etwas, aber nicht alles darüber. Ich hatte beim Lesen das berühmte Lied „Letzte Rose“ aus Friedrich von Flotows Oper „Martha“ im Ohr, wie es meine Großmutter einst mit dünner Stimme sang. Es kommt im Buch gar nicht vor, kann aber die Stimmung deutlich machen. Diese seltsame Mischung aus Sehnsucht und Trauer könnte man ein Herbstgefühl nennen, das der Autorin in ihrem 50. Lebensjahr schon mal nahe geht. Wobei „nagori“ wohl auch schon zum Ende des Sommers passt, wenn die Blätter vergilben. Es ist ein gemischtes Gefühl, weil der Abschied durch ein Element des Trotzes auch eine starke Energie enthält. Für diese „wundersame Energie des Lebens“ findet Ryoko Sekiguchi das Bild eines Blattes, das trotz Kälte am Ast bleibt. Ich habe eine Rose im Garten, die ihre Blätter überhaupt nicht abwirft. Aber ist das gut?
Irmtraud Gutschke
Ryoko Sekiguchi: Nagori. Die Sehnsucht nach der von uns gegangenen Jahreszeit. Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer. Matthes & Seitz, 117 S., Leinen, 18 €.