Anwalt der Ausgegrenzten
Marko Martin war 19, als die Mauer geöffnet wurde. Schon im Frühjahr 1989 hatte er das Land verlassen, wo er als Wehrdienstverweigerer nicht studieren durfte. Zu Beginn seines Buches erzählt er, wie er im August 1990 im Haus des Schriftstellerverbandes an der Berliner Friedrichstraße in Bücherkisten kramt. „Die sind längst ausgesondert“, sagte die Sekretärin. „Ausgesondert. Aber wer hatte das getan – nicht nur hier in den Räumen des Schriftstellerverbandes, sondern auch in den Bibliotheken des Landes und in den Buchhandlungen, aus denen über Nacht die ‚Ostbücher‘ verschwunden waren.“
Wer das tat? Viele waren beteiligt, die DDR-Literatur aus den Regalen zu räumen, ja sogar auf Müllkippen zu werfen, damit Platz fände, worauf Leser ja neugierig waren. So wie mit der Währungsunion die Ost-Produkte aus den Kaufhallen verschwanden, der Palast der Republik abgerissen, Straßen umbenannt wurden. Austausch Ost- gegen West-Personal von den staatlichen Institutionen bis zu den Universitäten. Es war eben nicht die Vereinigung zweier Staaten, die sich eine neue, gemeinsame Verfassung hätten geben müssen. Die DDR ist der BRD beigetreten. „Wo gesiegt wird, wird zuende gesiegt.“ Dieser Satz von Hermann Kant in unserem Interviewbuch „Die Sache und die Sachen“ geht mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich mir vorstelle, was hätte anders sein sollen.
Als Marko Martin in der Friedrichstraße in Bücherkisten kramte, war Kant als langjähriger Verbandspräsident schon Monate nicht mehr im Amt. Im Herbst 1989 hatte er die Vertrauensfrage gestellt und war haushoch bestätigt worden. Zum Schriftstellerkongress im Frühjahr 1990 ist er nicht einmal eingeladen worden. Warum ich im Zusammenhang mit Marko Martin auf ihn komme? Weil beide in einem Gegensatz stehen, der zu durchdenken ist.
Bei Kriegsende ebenfalls 19, war Kant vier Jahre in polnischer Gefangenschaft, erst im Gefängnis, dann in einem Lager auf dem Gelände des zerstörten Warschauer Ghettos. Dort reifte ein Bewusstsein deutscher Schuld (er hat es im Roman „Der Aufenthalt“ beschrieben) und deutscher Verpflichtung. Eine sozialistische DDR, die dem Nazismus die kapitalistische Grundlage nahm – bis zum Schluss wollte er an der „Sache“ festhalten, sah durchaus die unerfreulichen „Sachen“ und meinte, etwas bewegen zu können im Dialog mit der Macht. Der Preis für solches Lavieren trieb ihn um, zumal in den Jahren seiner Einsamkeit, als Menschen, die früher seine Nähe suchten, sich von ihm abkehrten, weil Medien ihn zur Symbolfigur machten für alles Böse in der DDR.
Marko Martin aber hatte von vornherein keine Bindung an diesen Staat. Wenn er von einer verschwundenen Kultur des Ostens spricht, die entdeckt werden müsse, ist vornehmlich eine Gegenkultur gemeint. Eine ideologische Sortierung, bloß umkehrt zu dem, was er in der DDR als belastend erlebt hatte. Sein Interesse gilt den Dissidenten, den ausgereisten und abgeschobenen Autoren von Wolf Biermann bis Jürgen Fuchs, Stefan Heym bis Lutz Rathenow, Günter Kunert bis Siegmar Faust. Künstlerische Wertigkeiten spielen da eine geringere Rolle als politische. Dass er auch jenen Gerechtigkeit widerfahren lassen will, die hüben wie drüben wenig Beachtung fanden, ist ehrenwert. So ungerecht ich manche Formulierung empfand, will ich es als Gewinn verbuchen, anderen Überzeugungen zu begegnen als den meinen. Ich will sie verstehen, wenn ich mir vorstelle, wie ein kleiner Junge die Verhaftung des Vaters erlebte. In Handschellen wurde er abgeführt – weil er nicht in der NVA dienen wollte. Auch Kant sollte ja mit 23 noch dorthin, konnte sich aber mit dem Hinweis auf einen durch den Krieg begründeten Pazifismus frei machen.
Mit was für Drohungen die Ausreiseanträge von Marko Martins Eltern beantwortet wurden – wieso nur musste das so sein? Durch die scharfen Restriktionen hat sich der Staat doch nur Feinde gemacht. „Unversöhnlich“, „kompromisslos“ – derlei Begriffe waren, es hat mich seit meiner Kindheit bedrückt, bei vielen älteren Genossen positiv besetzt. Eine Generation, die Nazismus und Krieg erlebt hatte, auch die Folgen des Stalinismus für die DDR, war anders als die im Frieden Aufgewachsenen. Indes sind diese Nachgeborenen, die einen freieren sozialistischen Staat wollten, bis zum Schluss nicht wirklich zum Zuge gekommen. Alle entscheidenden Positionen von den Älteren besetzt, die vornehmlich ein Mittun verlangten. Da waren Pläne für demokratische Veränderungen in der DDR in ein imaginäres Später verbannt – und zerstoben mit dem Beitritt zur BRD, der gerade diese mittlere Generation mit voller Wucht getroffen hat. Viele verloren ihre Stellung, während die Älteren in Rente gingen und dabei Glück hatten, wenn sie nicht als „staatsnah“ eingestuft waren. Die 20-, 30-Jährigen galten dagegen erst einmal als „unbelastet“. Dass auch sie die DDR noch mit sich tragen würden – so verschieden auch immer – wird an den beinahe zeitgleich erschienen Bücher von Marko Martin, Thomas Oberender und Gunnar Decker deutlich.
Irmtraud Gutschke
Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens. Tropen Verlag, 426 S., geb., 24 €.