Das Verbindende
Harald Haarmann beschreibt die faszinierende Geshichte von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen
Von Irmtraud Gutschke
Sind meine fernen Vorfahren womöglich auch Nomaden gewesen? Seit ich mit dem Werk des kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow beschäftige, vermeine ich mitunter ein leises Echo zu vernehmen: die Anmutung von etwas Bekanntem, das mir eigentlich fremd sein müsste. Kaum konnte ich malen, begann ich Pferde zu zeichnen. Und meine Diplomarbeit befasste sich mit der Gestalt des Pferdes Gülsary in Aitmatows Werk. Obwohl ich nicht reiten konnte und die Annehmlichkeiten des städtischen Lebens schätzte.
Persönliche Vorstellungswelten — der Autor dieses Buches mag abwinken, weil sein Metier die genaue Forschung ist. Harald Haarmann ist Sprachwissenschaftler, wobei ihn besonders die Geschichte der Sprachen interessiert. Was mich in seinem Denken fasziniert, ist das Weitausgreifende. Die eigene Kultur wird relativ, wenn man sie als etwas über Jahrtausende Gewordenes in Verbindung mit anderen versteht. Alles ist in Bewegung; das eigene Leben und Denken ist wie ein Tropfen im Meer.
Ob meine fernen Vorfahren womöglich Nomaden waren? Ja, gut möglich, sage ich mir nach der Lektüre dieses Buches, das die Urheimat der Indoeuropäer in der Steppe zwischen Wolga und Don verortet. Von dort aus breitete sich das Viehnomadentum nach Westen aus. „Indoeuropäer“ bezeichnet eine große Sprachfamilie. Zwei Drittel der Weltbevölkerung sprechen eine indoeuropäische Sprache, was immer auch mit großen Völkerbewegungen verbunden war. Haarmann spricht sogar von „indoeuropäischer Globalisierung“, ausgehend vom Handel bis zur Kommunikation. „Steppennomaden sindüber Zentralasien hinaus bis ins südliche Sibirien migriert. Am Fuße des Altai-Gebirges entfaltete sich während der Bronzezeit (im 4. Jahrtausend v. Chr.) die Afanasevo-Kultur, die bis um die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. Bestand hatte…“
Hätte ich dieses Buch zur Verfügung gehabt, als ich meine Diplomarbeit schrieb, ich hätte wichtige Aspekte hinzufügen können, gerade was die Bedeutung des Pferde für die führen Hirtennomaden in der russischen Steppe betraf. Das Pferd war nicht nur unverzichtbares Nutztier,sondern hatte auch zentrale Bedeutung in der bildenden Kunst und im Mythenschatz.
Die Lektüre führt vor Augen, dass der alleinige Bezug auf die griechische und römische Antike nicht reicht, um die eigene kulturelle Herkunft zu verstehen, das man viel tiefer in die Vergangenheit gehen müsste und dass aus diesen tiefen, verborgenen Wurzeln etwas Verbindendes gewachsen ist, ob wir es wahrnehmen oder nicht. Ganz selbstverständlich spricht harald Haarmann von Eurasien. Im Dunkel der Jahrtausende gibt es etwas, das allzu lang verleugnet wurde.
Harald Haarmann: Auf den Spuren der Indoeuropäer. Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen. C.H. Beck, 368 S., geb., 19,95 €.