Verluste und wie Literatur darauf reagiert
Viele Ärzte stehen am Krankenbett des Kapitalismus. Andreas Reckwitz ist wohl einer der klügsten
Irmtraud Gutschke
Immer noch habe ich vor Augen, wie Prof. Jürgen Kuczynski einst im großen Saal des ND-Gebäudes anhand diverser Diagramme die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus demonstrierte. „Faulender Kapitalismus“, sagte mein Ressortchef beim Hinausgehen, „aber er ist gut parfümiert“. Gerade war er zur Frankfurter Buchmesse im Westen gewesen. Als ich 1988 dorthin kam, war mein Magen wie zugeklebt. Von all dem bunten Überfluss, der sich mir aufdrängte, und weil man mir dermaßen wenig Westgeld mitgegeben hatte.
Kuczynskis Buch „Die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft“ reizte mich damals nicht so sehr. Klar, dass sich der Kapitalismus irgendwann überlebt haben würde. Erst einmal hatten wir mit uns zu tun. Wie Suhrkamp mit dem Cover des neuen Reckwitz-Bandes in Blau, Weiß und Ockerorange die Farbigkeit jener Dietz-Ausgabe von 1976 spiegelt, ist natürlich Zufall. Kuczynskis Name findet sich im Register nicht. Der DDR-Wirtschaftshistoriker hätte dem West-Kollegen vorgehalten, mit der Systemkrise nicht radikal genug umgegangen zu sein. Aber Andreas Reckwitz will den Kapitalismus ja noch nicht begraben. Er verwendet diesen Begriff bisweilen, spricht aber lieber von „Moderne“, sodass er die Macht- und Verteilungsverhältnisse (da ist er gewiss ohne Illusion) im Hintergrund lassen kann. Was dieses Buch auszeichnet, ist ein klares Benennen jener Verluste, die jeder irgendwie spürt.
Sicher befand sich die Welt immer in einem Prozess des Werdens und Vergehens. Doch dass dem Kapitalismus in der Gegenwart jene Fortschrittserzählung abhandenkam (die letztlich immer illusionär war), betrifft uns unmittelbar. „Gletscher schmelzen, Arbeitswelten verschwinden, Ordnungen zerfallen“, zudem nimmt die Kriegsangst, die Reckwitz nicht ausdiskutieren will. Als Soziologe blickt Reckwitz auf die gesellschaftlichen und individuellen Folgen dieser Veränderungen. Weil er sich in einem wissenschaftlichen Diskurs weiß, ist er auf geistige Flughöhe bedacht. Und begibt sich doch ebenso in die Niederungen der Erscheinungen und Emotionen, die er rational fassbar machen will.
Immer wieder habe ich beim Lesen eigene Erfahrungen wiedergefunden, wie Verluste gesellschaftlich verarbeitet werden. Gar nicht lange her ist es, dass negative Emotionen versteckt, Verlierer und Opfer stigmatisiert wurden. Inzwischen ist fast das Gegenteil üblich. „Die eigenen Gefühle zu zeigen und sie von anderen zu erkennen, avanciert in der spätmodernen Gesellschaft – im Privatleben, im Beruf und in der Erziehung – zu einer zentralen Kompetenz und zum Ausweis individueller Authentizität.“ Diese Offenheit aber macht zugleich „verlustaffiner“. Verletzung vor sich herzutragen, ist auf dem Buchmarkt geradezu Trend.
Natürlich müssen solche Themen erst angestoßen werden, wie es Christian Baron hierzulande mit seinem inzwischen verfilmten Buch „Ein Mann seiner Klasse“ gelang. Ob Annie Ernaux, Didier Eribon oder Édouard Louis, eine ganze Strömung autofiktionaler Literatur entstand, die sich mit der Überwindung sozialer Benachteiligung befasst. Den Betroffenen die Verantwortung für ihre missliche Lebensrealität aufzuladen, erfährt in der Textsammlung „Selbst schuld“ polemische Gegenrede. Wobei sich im Zwang zur Selbstverwirklichung gerade im intellektuellen Bereich emanzipatorische Energien allzu oft mit Konkurrenzgelüsten verbinden. Manche Verlage scheinen nur noch von weiblichen und migrantischen Themen leben zu wollen. „Wokeness“ kocht über und gerinnt zu einer Art Pädagogik, die selbst noch die Krimis erfasst. In „Kritik der großen Geste“ hat Armin Nassehi die Folgen analysiert.
„Die liberale Postindustrialisierung bringt eben nicht nur die Gewinner der Wissensgesellschaft, der Meritokratie und der liberalen Kultur hervor, sondern auch die Verlierer der Deindustrialisierung, der Vermarktlichung und der kulturellen Liberalisierung“, so Andreas Reckwitz. „Aufstieg von Populismus“, der „demokratische Regressionen“ möglich macht, steht dazu im Zusammenhang. Der „Rückzug des Fortschrittsglaubens“ ist fatal. „Antizipationen von Verlusten in Bezug auf die Zukunft“ werden geradezu kultiviert.
Gespräche in Bibliotheken bestätigen es: Apokalyptische Szenarien, im Unterhaltungsgenre lange Mode, verlieren an Anziehungskraft. Die Bedrückungen sind so stark geworden, dass viele Leser per Lektüre eine andere Medizin suchen. Wenn Medienkonsum die Ohnmachtsgefühle noch anheizt, ist Selbstbesinnung angesagt. Vier neue Titel aus dem Insel-Verlag mögen dafür bezeichnend sein: „Der Zauber der Welt. Trost finden in unruhigen Zeiten“ von Katherine May, „Das Traumbuch“, illustriert von Mehrdad Zaeri, „Neue Wege gehen. Geschichten und Gedichte vom Überwintern“ und „Wünsche werden wahr. Lektüre zwischen den Jahren“.
Wohlfühllektüre, gewiss. Sich mit Wünschen wappnen – wie viele kluge Leute haben es schon versucht: „ein Magnolienbaum sein“ (Rose Ausländer), „heilige Einsamkeit genießen“ (Rainer Maria Rilke), Entzücken angesichts eines Tautropfens (Peter Handke), „Durchbruch des Hierseins“ (Ernst Bloch). Sich nicht in Zukunftsängsten vergraben, indem man sich auf das täglich Nötige konzentriert – da hat Stefan Zweig sich auch selbst beschworen. Zauberkraft zu besitzen, was Hermann Hesse sich erträumte, ist schon lange mein Wunsch.
„Was macht uns resilient?“ – das Hörbuch von Andreas Reckwitz und Svenja Flaßpöhler gibt es derzeit nur als Download zu erwerben. In vorliegendem Band verbindet der Autor Resilienz mit politischen Notwendigkeiten: „mit dem Negativen rechnen und dagegen Vorkehrungen treffen…, die Individuen und Institutionen in ihrer Verletzlichkeit schützen“. Ein Austarieren zwischen „den Gewinnen der einen und den Verlusten der anderen“ würde dabei „eine wichtige Aufgabe bleiben“.
Letzteres ist dermaßen vorsichtig formuliert, dass mir gleich ein anderes Buch einfällt: „Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen“ von Ines Schwerdtner und Lukas Scholle. Radikale Gegenrede aus linker Sicht – im Grunde arbeitet sie Andreas Reckwitz sogar zu. Denn seine Befunde und Prognosen haben ihn zu einem gefragten Gesprächspartner für Entscheidungsträger gemacht. Schon in seinem erhellenden Buch „Das Ende der Illusionen“, 2019 bei Suhrkamp, ging es um die Gewinner und Verlierer der Modernisierung, zu denen er auch die „alte Mittelklasse“ zählt. Auf die neuen sozialen Fragen zu antworten, die Stadt-Land-Differenz inklusive, verlange umso dringender nach Steuerung, da „‚der Westen‘ wohl unwiederbringlich dabei ist, seine Hegemonie, sein Privileg auf Wohlstandanhäufung und politische Hegemonie zu verlieren“. Da sehe ich sogar Jürgen Kuczynski nicken. Unter den vielen Ärzten am Krankenbett des Kapitalismus ist Prof. Dr. Andreas Reckwitz wohl einer der klügsten.
Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp, 464 S., geb., 32 €.