Wer wir sind und wer wir sein wollen
Irmtraud Gutschke
„Der Mensch ist ein Wesen auf der Suche nach Sinn.“ Was schon Platon hervorhob, das liegt uns gerade jetzt besonders auf der Seele. So mag es scheinen, aber es stimmt so nicht. Vielleicht unterbrochen von kurzen Phasen der Gewissheit, gab es in der Geschichte vor allem solche der Irritation. Aber selbst wenn sich der Einzelne in stabil scheinenden Umständen befand, bedeutete das noch lange nicht, dass es kein Hadern gab mit sich selbst und mit dem Schicksal. Tröstlich da die Worte von Moses Mendelsson: „Auf dem dunklen Pfad, auf dem der Mensch hier auf Erden gehen muss, gibt es gerade so viel Licht, wie es braucht, um den nächsten Schritt zu tun. Mehr würde ihn nur blenden.“
Was derzeit so viele vermissen ist ein gerader, gut beleuchteter und bequemer Pfad, auf dem sie zumindest die Illusion haben könnten, das eigene Leben irgendwie unter Kontrolle zu haben. Eine Zielgerade am besten, das Versprechen inklusive, dass sie ihr Ziel erreichen würden. Dieses Versprechen hatte es in der sozialen Marktwirtschaft tatsächlich schon einmal gegeben. Umso größer die Enttäuschung jetzt.
„Der Mensch ist nie zufrieden.“ Richtig, liebe Frau Rosa Luxemburg. Doch diese Aussage hilft uns momentan wenig. Nein, stimmt nicht, sie hilft nämlich doch, indem ich eigenen Frust weniger wichtig nehmen muss, denn vielen ging es so, und so wird es auch künftig sein. Zumal wir nicht vergessen dürfen, das Nicht-Zufrieden-Sein uns auch in Bewegung bringt. Aber Bewegung wohin?
Seit Menschengedenken, kann man sagen, flackert diese Frage über uns: Wer wir sind, wozu wir auf der Welt sind und ob wir tatsächlich unser Leben ganz hinter uns lassen müssen. „Der Mensch ist, was er glaubt.“ Das meint Anton Tschechow. Marie von Ebner-Eschenbach wendet lächeln ein: „Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf – es kommt nur auf die Entfernung an.“ Großartig hat sie das ausgedrückt, das will ich mir merken.
Dieses Buch zu lesen, verführt dazu, sich Zitate herauszuschreiben. Was ja unsinnig ist, man hat das Bändchen doch im Regal. Aber wenn man etwas notiert, merkt man es sich leichter. Charles Lewinsky und dem Diogenes Verlag sei Dank für seine Mühe „200 Gedanken über das, was uns ausmacht“, zusammengetragen zu haben. Ein Namensregister wäre nicht schlecht gewesen, hätte dem Buch aber noch viele Seiten hinzugefügt.
Tröstlich ist wirklich, wie das, was einem heute auf der Seele liegt, schon unsere fernen Vorfahren umtrieb und wie Gedanken von einst auch heute noch gültig sind.
„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, stellte Titus Maccius Plautus erbittert fest. „Welch ein Meisterwerk ist der Mensch“, jubelte William Shakespeare. Da haben beide wohl recht.“ Ich will es mit dem chinesischen Dichter Li Tai Pe halten: „Frohsinnige Menschen sind ideenreich.“ Und mit Goethe: „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“
Ein wunderbares Weihnachtsgeschenk ist dieses Buch. Zum Nachdenken, Zustimmen, Widersprechen und tröstlich auf jeden Fall.
Von Mensch zu Mensch. 200 Gedanken über das, was uns ausmacht. Ausgewählt und mi teinem Vorwort von Charles Lewinsky. Diogenes, 216 S., geb., 20 €.