Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Ben Pastor: Stürzende Feuer

Die Attentäter und der Hellseher

Ben Pastor gelang ein fulminanter Krimi mit einer aufschlussreichen Sicht auf den 20. Juli 1944

Irmtraud Gutschke

Dieser Krimi gehört auf die Bestensliste! Atemlose Lektüre bis zum Schluss. Eine rasante Handlung, eingebettet in Ereignisse deutscher Geschichte, die hier eine eigene, aufschlussreiche Deutung erfahren. Historische Einsichten bieten sich, wie man sie so womöglich nicht erwartet hätte.

Warum die Italienerin Maria Verbena Volpi Pastor unter dem Namen Ben Pastor veröffentlicht, ließe sich womöglich dadurch erklären, dass sie mit einem amerikanischen Militärangehörigen (hieß er womöglich Ben?) in die USA übersiedelte. Dort lehrte sie an verschiedenen Universitäten, lebt Inzwischen wieder in ihrer Heimat, schreibt aber auf Englisch. Vielleicht auch passte der männliche Vorname besser zu ihrem Protagonisten. Mit Martin-Heinz Douglas von Bora einen deutschen Militär während des Zweiten Weltkrieges zum Detektiv zu machen, lässt allein schon aufmerken: Mordfälle aufklären vor dem Hintergrund des Krieges, wo das Töten als normal erscheint?

Dem neuen Krimi gingen weitere voraus: In „Tod der Äbtissin“ (Piper, 2006) ist Martin noch Kavallerie-Hauptmann der deutschen Wehrmacht und Nachrichtenoffizier. In „Kaputt Mundi“ (Piper 2005) schon Major und im neuen Buch Oberstleutnant. Ungeachtet seiner  kritischen Einstellung zu den Massenmorden an Zivilisten, Juden insbesondere, wurde er also befördert. Und den ganzen Roman über sehnt er sich zurück zu seinem Regiment in Italien, das ja zu dieser Zeit den alliierten Truppen entgegensteht.

Der Tod seines Onkels, Prof. Dr. Alfred Johann Reinhardt-Thoma, der in Dahlem eine „Klinik für Kindeswohl und Kindergesundheit“ gegründet hatte (und sich gegen das Euthanasie-Programm der Nazis stellte), bringt ihn am 10. Juli 1944 nach Berlin. Bei dessen Staatsbegräbnis trifft er seine Mutter und wird am Abend zu SS-Gruppenführer Arthur Nebe, dem Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, einbestellt. Die Nachricht kam von Carl Friedrich Goerdeler. Da könnte es manch einem auf Seite 30 schon „klingeln“, den Goerdeler war von der Gruppe um Claus von Stauffenberg nach dem Sturz Adolf Hitlers als Reichskanzler vorgesehen und arbeitete bereits an Plänen für eine neue Verfassung und an Ministerlisten, die vielen Mitverschwörern später zum Verhängnis geworden sind. Unter den mehr als 200  Hingerichteten ist auch Arthur Nebe gewesen, der sich an diesem Abend noch in   seiner Macht sonnt. Rätselhaft in diesem Moment, warum er den Wehrmachtsoffizier Bora beauftragt, in einem Mordfall zu ermitteln, statt diesem seiner Kriminalpolizei zu überantworten.

Es geht um Walter Niemeyer alias Sami Mandelbaum, alias Magnus Magnusson, der in seiner Villa in Dahlem durch zwei Schüsse getötet worden ist. Da denkt man an Erik Jan Hanussen (eigentlich Hermann Chajm Steinschneider), der sich Freunde und Feinde in einflussrechen Kreisen erwarb und im März 1933 ermordet wurde. Für Niemeyer ist eine Liste von Verdächtigen schon zur Hand. Die wird Bora zusammen mit dem bulligen Leutnant Florian Grimm von der Kripo im Laufe des Romans noch abarbeiten. Es wird Indizien geben, Verhaftungen, weitere Todesfälle, Spuren, die in die Irre führen. Auch privaten Kummer und Begierden. So wie es sich für einen ordentlichen Krimi gehört. Doch im Hintergrund wabert eben noch anderes. Die Autorin kann es bei Andeutungen belassen, denn wir wissen ja, dass es bis zum 20. Juli nicht mehr weit ist.

Wenn wir das Buch aufschlagen, empfängt uns ein Stadtplan von Berlin. Wirklich erstaunlich: Wie in einem Film führt uns die Autorin die Stadt zur damaligen Zeit vor Augen. Mit so vielen Einzelheiten, als wäre sie dabei gewesen. Wie sah es im Hotel „Adlon“ und wie in einem Friseursalon von damals aus? Oder in den Beelitzer Heilstätten, wo sich Martin Bora bei Major Bruno Lattmann Rat holen kann? „Der Unterschied zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen war seit Jahren nicht mehr so ausgeprägt gewesen.“ Und was einem heute erst bewusst wird: die Standesunterschiede per Geburt. Bürgertum und Adel trafen im NS-Regime aufeinander, und die Hochwohlgeborenen sahen sich berechtigt, die Nase zu rümpfen. Waren es nicht Emporkömmlinge gewesen, die alles in Unordnung brachten? „Diese Männer verhalten sich wie Offiziere des Deutschen Heeres im Kaiserreich, eine privilegierte Schicht, der ein gewisses Maß an Aufsässigkeit zugestanden wurde, weil sie zum selben gesellschaftlichen Milieu gehörte wie der Monarch. Auf diese Weise bereitet man keinen Staatsstreich vor.“

Der ist ja dann, wie wir wissen, auch gescheitert. Martin Bora, der seinem Offizierseid treu sein will, aber schon so viel im Krieg gesehen hat, um in sich zerrissen zu sein, steht dennoch den Verschwörern distanziert gegenüber. In einer Krisensituation, wenn jeder jedem misstrauen muss, haben auch sie keine sauberen Hände. Jedes Mittel muss ihnen recht sein, damit ihr Vorhaben nicht entdeckt wird.

Dass Claus Schenk Graf von Stauffenberg in der BRD zu einem Symbol des Widerstands gegen Hitler verklärt worden ist, passte zum   fortbestehenden Antikommunismus. Ben Pastor, 1950 in Rom als Tochter einer Jüdin und Enkelin eines Antifaschisten geboren, widmete ihr Buch „all jenen, die Widerstand gelistet haben, aber in Vergessenheit geraten sind“.

Ben Pastor: Stürzende Feuer. Kriminalroman. Aus dem Englischen von  Hella Reese. Unionsverlag, 446 S., br., 22 €.

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